Kolumne | Die norwegische Schande

Und jetzt? Eines ist klar. Norwegischer Sportler möchte man derzeit nicht sein. Es lässt sich nämlich nicht vermeiden, dass plötzlich ein Generalverdacht abgeleitet wird von dem skandalösen Betrug der norwegischen Skispringer bei der Weltmeisterschaft in Trondheim. Verwendet etwa Johannes Thingnes Bö, der beste Biathlet der Welt, eine Munition, die während des Fluges stets in die Mitte der Scheibe steuert, die immerhin 50 Meter entfernt ist?

Blödsinn, klar. Oder verwendet er ein Wunderwachs, weil er doch meistens viel schneller läuft als die Konkurrenz? Hat er auch, wie die Skispringer, an seiner Bindung gefeilt? Seine Landsleute haben ihm und seinem Bruder Tarjei wahrlich keinen Gefallen getan mit ihrer wohl generalstabsmäßig geplanten Manipulation. Wo immer die beiden Ausnahmeathleten in den nächsten Tagen (Pokljuka in Slowenien und Oslo) antreten, um ihre letzten Wettkämpfe zu absolvieren, wird sie der Skandal von Trondheim erreichen. Auch wenn sie keine Skispringer sind. Sie sind norwegische Spitzensportler. Das reicht jetzt, um vieles in Frage zu stellen.

6000 Dosen Asthmaspray Sie gehören zu den Kollateralschäden eines kaum für möglich gehaltenen kriminellen Umtriebes von Trainern und Funktionären ihres Landes. Ob mit oder ohne Wissen der Athleten muss wohl auch noch ermittelt werden. Und so geht es vermutlich weiter. Wie kann es sein, wird sich mancher Skeptiker jetzt fragen – und derer wird es plötzlich viele geben -- dass der Leichtathlet Jakob Ingebrigtsen mit 24 Jahren schon zweimal hintereinander (2020 und 2024) Olympiasieger werden konnte. Zunächst über 1500m und in Paris über 5000m. Und einen neuen Hallenweltrekord über die Meile stellte er in diesem Jahr auch schon auf. Hat man seine Schuhe wirklich genau untersucht? Und wie ist es möglich, dass der kleine Markus Rooth den deutschen Modellathleten Leo Neugebauer in Paris im Zehnkampf schlägt? Verwendet er Zaubermittel? Halt, jetzt ist aber Schluss mit haltlosen Thesen. Wir wollen nicht übertreiben. Oder müssen wir?

Mir fällt nämlich noch ein, dass bei den Olympischen Spielen in Pyeongchang die norwegische Delegation 6000 Dosen Asthmaspray im Gepäck hatte. Für 121 Athleten und Athleten. Das in den Sprays enthaltene Mittel Salbutamol erleichtert die Sauerstoffaufnahme und kann leistungsfördernd wirken. Allerdings muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass auch gesunden Sportlern das Mittel prophylaktisch empfohlen wird. Es kommt halt, wie so oft, auf die Menge an. Allerdings wird die Asthmaspray-Diskussion mitunter sehr emotional und nicht naturwissenschaftlich ausgefochten. Dennoch war die Anzahl der Sprays 2018 bei Norwegen wohl überdurchschnittlich hoch im Vergleich zur Anzahl der Aktiven und das stellt den Norwegern nicht unbedingt ein gutes Zeugnis aus.

Die Vielfalt des technischen Dopings Die manipulierten Anzüge und, wie es scheint, auch modifizierten Bindungen, sind weitere Mosaiksteine in einer Reihe schier beispielloser, indes auch phantasiebegabter Betrügereien im Sport. Es gab illegale Zusatztanks in Formel-1-Boliden. Ventile für Bälle bei Footballspielen wurden manipuliert (mit weniger Luft lassen sie sich leichter fangen). In Fahrradrahmen wurden Elektromotoren eingebaut, Schachspieler ferngelenkt mit kleinen Geräten, die in der Hosentasche vibrierten.

Aus Boxhandschuhen wurde das Innenfutter entfernt. Der damit ausgestattete Boxer verstärkte seine Hände mit Gipsverbänden und fügte seinem Gegner damit schwere Augenverletzungen zu. Bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal brachte ein Fechter aus der damaligen UdSSR beim Wettkampf im Rahmen des Modernen Fünfkampfes einen Knopf zum Einsatz, den er so auslösen konnte, dass immer Treffer für ihn angezeigt wurden. Und ein mit Kork gefüllter Baseballschläger (dadurch wird der Schläger leichter und der Schwung damit schneller) fiel auf, als er zerbrach. Es war das Gerät des Weltklassespielers Sammy Sosa von den Chicago Cubs. Norwegens sportlicher Skisprung-Leiter Jan-Erik Aalbu (l.) ist ein Gesicht des Skandals. © APA/afp / HEIKO JUNGE

An Disqualifikationen im Lager der Skispringer hatte man sich dagegen fast schon gewohnt. In Peking trug die deutsche Springerin Katharina Althaus einen nicht regelkonformen Anzug (der indes nicht manipuliert worden war). Dadurch war für die gesamte Mixed-Mannschaft nach dem ersten Durchgang Schluss. Im Vergleich zu den nun aufgetauchten und auch bereits von den Norwegern bestätigen Betrügereien war das lediglich eine Nachlässigkeit, die indes auch korrekterweise geahndet wurde. Trondheim ist ein trauriger Höhepunkt in einer losen Folge immer wieder neuer Betrügereien im Sport. Sei es durch sogenanntes technisches Doping und durch medizinische Beeinflussung der Leistungsfähigkeit. Dabei wurde die nordische Weltmeisterschaft 2025 geprägt von einem norwegischen Ausnahmeathleten: Johannes Hösflot Klöbo. Er gewann alle sechs Rennen, bei denen er antrat. Doch die Schande seiner Springerkollegen überdeckte seine wahrlich außergewöhnliche und erneut einmalige Glanzleistung. Auch er gehört zu den Kollateralschäden des norwegischen Sports.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport), widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Kolumne | Die norwegische Schande

Der auch offiziell zugegebene Betrug der norwegischen Skispringer bei der Weltmeisterschaft in Trondheim wird, so fürchtet unser Kolumnist Sigi Heinrich, auch Auswirkungen in andere Sportbereiche der so erfolgreichen Norweger haben. Kollateralschäden sind wohl nicht auszuschließen.

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