Flucht in die sportliche Scheinwelt

Jetzt wissen wir mehr definitiv mehr: Dass der Winter eben doch ein unwirtlicher Geselle sein kann zum Beispiel, der, wenn es ihm gefällt, auch den Sport mit einem Handstreich lahmlegen kann.

Die Münchner Allianz-Arena etwa war nur noch ein einziger Schneeball zuletzt. Da nutzte auch die beste Versicherungspolizze nichts mehr im Kampf gegen das weiße Chaos. Die Bayern- Kicker waren arbeitslos. Beim Straßendienst und den Feuerwehren war das Gegenteil der Fall. Die Natur hat uns wieder einmal Demut gelehrt und uns mit unserer hochnäsigen und selbstherrlichen Arroganz in die Schranken gewiesen. Sogar die &bdquo;Birds of Prey“ in Beaver-Creek (USA) kam flügellahm daher. Der Raubvogel mutierte zum harmlosen Wellensittich, gefangen im Käfig von Frau Holle, die noch immer höchst aktiv sein kann. Die Abfahrtselite schaut verdutzt aus der Daunenwäsche und reibt sich verwundert die Augen. Ja, wir sind nur noch kleine Würmer, die hilflos mitansehen müssen, wie uns ein ganz normaler Winter um die Ohren fliegt, weil wir immer glaubten, auch diese Jahreszeit würden wir sportlich im Griff haben.

Manchmal bekamen wir in der Vergangenheit noch den Freiraum, daran zu glauben. Doch diese Bewegungsfreiheit wird zunehmend kleiner. &bdquo;Rien ne va plus“. Nichts geht mehr. Dubai schickt derweil von der UN-Klimakonferenz Grüße in die Welt hinaus und verbindet sie mit einer klaren Botschaft, die da lautet: Der Klimawandel mag existieren, die Erderwärmung nimmt bedrohliche Ausmaße an, aber das ist nicht so tragisch. Es lässt sich alles mit Geld lösen. Je höher die Flut steigt, umso höher fällt die Entschädigung für jene Staaten aus, die von den Stürmen und Unwettern unserer Welt besonders betroffen sind. Die Allianz Arena in München war mit dem Neuschnee am Wochenende überfordert. © APA/afp / ALEXANDRA BEIER

Noch haben die Herren der Welt, die feine Kaste der Politiker, keine festen Parameter festgelegt. Erst einmal wird auch von Staaten, denen gerade der eigene Haushalt um die Ohren fliegt, fleißig in den Topf des schlechten Gewissens eingezahlt. Später kann man ja noch in kleinen Arbeitskreisen festlegen, wie viele Millionen für wie viele Meter Hochwasser bezahlt werden. Möglicherweise haben die Skifahrer, die gerade eine Pause verordnet bekamen von eben jener Natur, die sich nicht um unser Überleben schert, weil wir sie dauernd quälen und ausbeuten, jetzt gerade Zeit, auch mal über ihre Situation nachzudenken. Wenn so viele Absagen das Bild prägen, könnte man doch annehmen, dass alle verstanden haben, dass allmählich Veränderungen sein müssten. Doch Hand aufs Herz: Die Bequemlichkeit wird siegen, der Kommerz triumphieren und morgen, ja morgen sind die Gletscher ja immer noch da. Sollen doch diejenigen sich kümmern, die es letztlich später richtig betreffen wird. Wir sind da längst außen vor. Für uns ist es wichtiger, dass der Wein die richtige Temperatur hat und nicht die Erde. Und weil uns alles noch nicht so richtig brutal auf den Kopf fällt, werden etwa die Abfahrtsrennen nächstes Jahr auch wieder so geplant wie diesmal. Wie immer halt. Es gibt ja stets Ersatz, wenn irgendwo irgendetwas aus dem Ruder läuft. Hochfilzen lockt mit einem Winterwunderland Wissen wir also jetzt wirklich mehr? Zumindest in Teilen des Sportbetriebes gibt es, abseits von schwerwiegenden Gedanken, die einen packen und beschäftigen, weil man ja auch mittendrin ist in diesem Getriebe, ein paar Erkenntnisse. Kälte etwa, auch bis fast minus zwanzig Grad, darf nicht interessieren. Klamme Finger, die etwa beim Biathlon das Schießen zu einer Lotterie machen können, sind maximal Einzelschicksale. Pech einfach. Die in Östersund beim Weltcupauftakt erhöhte und sich kontinuierlich steigende Infektionssymptomatik ist indes ein deutliches Indiz, dass schon jetzt viele Athleten ihr Immunsystem bis an den Rand der Belastbarkeit getrieben haben. Und es geht ja jetzt erst los.

Glücklicherweise reist man vom hohen Norden in südlichere Gefilde zu Temperaturen um null Grad in Hochfilzen (Tirol) und einer Winterwunderlandschaft, die uns erneut dazu verführt, zu glauben, alles ist in bester Ordnung. Alte Bauernregeln haben Hochkonjunktur, die natürlich meist so angelegt sind, dass sie passen und uns in Sicherheit wiegen. Für den 6.Dezember etwa heißt es: Wird es kalt, kommt der Winter bald. Wer hätte das gedacht. Solche Sprüche sind uns jetzt eine Stütze, weil wir, die wir kleine Rädchen sind in diesem großen Weltgetriebe, kaum noch Halt finden anderswo. Der Sport, die Übertragungen im Skilauf, Skispringen, Langlauf oder Biathlon, sogar im Fußball, der eigentlich eine lange Winterpause machen sollte, lässt uns immerhin für wenige Momente das Chaos dieser Welt vergessen, wenn wir jubeln dürfen und können mit unseren Favoriten. Dann fühlt es sich für einen Moment so an, als sei scheinbar doch alles in Ordnung. Wir entfliehen den Problemen in die sportliche Scheinwelt. Und wenn es doch eine Absage gibt? Kein Problem. Dann werden Wiederholungen eingespielt, die uns suggerieren, dass der Betrieb, allen Unkenrufen zum Trotz von woher auch immer, nicht aufzuhalten ist. Bis zum nächsten Schneechaos, zur nächsten Flutwelle und zur nächsten Überschwemmung. Denn diese Wiederholungen sind auch längst Teil unseres Lebens geworden.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi`s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich und ernst oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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