Kolumne | Die Magie der Adler

Jetzt ist wieder die Zeit, um in den Himmel zu schauen. Man sollte sich freilich in den Alpen befinden und einen freien Blick haben. Dann kann man mit etwas Glück ein besonderes Schauspiel erleben. Steinadler fliegen schier freudetrunken durch die Luft. Sie lassen sich zunächst in Spiralen hoch hinauftragen, legen dann die Flügel an und stürzen sich dann schier unaufhaltsam in die Tiefe. Dann fangen sie den Sturz elegant ab, um das Schauspiel erneut zu starten. Liebestrunken sind sie. Im Winter ist Paarungszeit bei den Steinadlern. Wir Menschen kennen das ja auch, wenn man gar nicht mehr weiß wohin mit seinen Gefühlen. In diesem Zustand klarer Unberechenbarkeit stellt man mitunter die verrücktesten Sachen an, um seine Liebste zu umgarnen. Natürlich kann man ganz profan auch ein Ticket kaufen für eine Sportveranstaltung, um Adler fliegen zu sehen. In Oberstdorf etwa oder in Garmisch-Partenkirchen. In Innsbruck oder Bischofshofen.

Da stürzen sich Menschen in die Tiefe. Natürlich ist die Show der Skispringer bei der Vierschanzen-Tournee nicht vergleichbar mit dem schier todesmutigen Sturzflug der tierischen Flugkünstler. Bewunderung freilich lösen die Flüge oder auch Sprünge der Athleten dennoch aus. Es ist der Mut, den wir bewundern, der uns, die Zuschauer klein macht, weil wir wissen, dass wir das nie machen könnten und auch nicht wollen. Die Akteure sind für uns magische Wesen aus einer uns fremden Welt. Abenteurer, Verrückte irgendwie auch, denn wie kann man nur mit zwei Skiern einfach durch die Luft schweben. Immer weiter, weiter. Bis der Sprunghügel ausläuft. Fast bis in den flachen Zielraum hinein stürzen sich die menschlichen Adler hinunter. Ja, auch das ist ein Schauspiel, das uns Jahr für Jahr geboten wird. Die Stadien sind immer ausverkauft. Hohe Einschaltquoten an den TV-Geräten sind garantiert. Die Vierschanzen-Tournee ist Magie. Eine verlässliche Größe zur Jahreswende.

Vierschanzen-Tournee ist Magie. © ANSA / ANNA SZILAGYI

Ein Fixpunkt in unserem Leben. Zum 73. Mal wird sie dieses Jahr ausgetragen. Ich habe kurz mal den Rechenschieber bemüht. 63 davon habe ich gesehen. Das erste Mal ist dabei noch immer in bester Erinnerung. Unser Nachbar hatte den einzigen Fernseher im Ort. Wir waren eine Handvoll Buben und saßen wie hypnotisiert auf dem Boden und bewunderten die Springer. Schwarz-Weiß. Logisch. Bis heute habe ich mir den Namen von Björn Wirkola, einem Norweger, gemerkt. Ich bin dann später, als Jugendlicher, auch mal von einer richtigen Schanze gesprungen. Mit meinen normalen Skiern, beim Jugendskitag in Icking. Auf die Urkunde, die ich dafür bekam, bin ich heute noch stolz, auch wenn es vermutlich kein Flug war, sondern eher ein Hüpfer.

Fliegende Frauen Spät dann, ein Abend unter Flutlicht. Wieder steht eine Flugshow auf dem Programm. Diesmal sind die Frauen dran, die längst auch um olympische Ehren springen dürfen. In der Tierwelt wären sie gar im Vorteil. Die Flügelspannweite der Weibchen ist größer als die der Männer. Doch nur Wenige erweisen den mutigen Damen die Ehre. 3200 Zuschauer in Oberstdorf. Bei den Männern, beim Auftaktspringen der Tournee, waren zehnmal so viele im Stadion. Rätselraten in der Szene und Ursachenforschung. Warum will kaum jemand die Frauen sehen im Flug von einer dieser mächtigen Schanzen? Trauen wir es ihnen nicht zu? Wir wissen doch längst, dass sie ebenso prädestiniert sind wie die Herren der Schöpfung. Vielleicht springen sie nicht so explosiv ab und nicht so weit hinunter. Doch ihre Flüge gleichen längst denen der Männer. Zweischanzen-Tournee heißt die Veranstaltung für die Frauen. Das klingt nicht nur verniedlichend, das drückt auch mangelnde Wertschätzung aus.

Veränderungen am falschen Ort Aber vielleicht ist es auch schon Übersättigung. Noch mehr Skispringen, immer mehr, schließlich wird längst auch die Qualifikation als Topereignis verkauft und auch übertragen. Oder ist es ein allgemeiner Trend? Die Einschaltquoten der Frauen-Bundesliga im Fußball erreichen einen Bruchteil von denen der Männer. Die Zuschauerzahlen in den Stadien erreichen nicht einmal jene der dritten Männerliga. Das sind schlichte Fakten. Derweil ist in der Präsentation des Sports, vor allem in den elektronischen Medien, also TV, eine Umkehrung der Situation erkennbar, gerade so, als wolle man mit Macht jetzt endlich die Gleichberechtigung erreichen, die nun zu Lasten der Männer geht. Frauen sind auf dem Vormarsch. Fast jede Moderatorenstelle wird mittlerweile mit Frauen besetzt. Kommentatoren werden Frauen bei Fußballspielen an die Seite gestellt. Eine qualitative Veränderung ist dabei nicht zu beobachten. Aber das Gewissen der Senderverantwortlichen ist erst einmal befriedigt. Wie so oft schießt man über das Ziel hinaus, wenn man zu schnell Veränderungen erreichen will. Vielleicht ist es deshalb ganz gut für das Vorhaben einer Vierschanzen-Tournee für die Frauen, sich erst einmal langsam an die gewaltige Dimension einer Institution wie dieser legendären Sprungserie heranzutasten. Und selbst dann ist nicht damit zu rechnen, dass sie jemals diese Popularität erreichen wird. Es sind ja auch die männlichen Adler, die ihre Sturzflüge zelebrieren, um den Frauen zu gefallen. Da ist die Welt noch in Ordnung.

Zum Autor. Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Bandbreite des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Kolumne | Die Magie der Adler

Die Vierschanzen-Tournee der Skispringer hat nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Dass jetzt auch die Frauen eine solche Serie wollen, versteht auch unser Kolumnist Sigi Heinrich. Allerdings scheint der Trend im Augenblick nicht eben günstig für ein solches Vorhaben zu sein.

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