Vor 50 Jahren: Das Skirennen für die Ewigkeit

1975 ist das Zweite Autonomiestatut gerade einmal 3 Jahre alt, mit und in Südtirol geht es nach Jahrzehnten der Stagnation endlich aufwärts und eine Symbolfigur dieses Aufwärtstrends gibt es auch: Gustav Thöni. Er ist vor dem denkwürdigen Weltcupfinale in Gröden bereits Olympiasieger, Doppelweltmeister und dreifacher Gewinner des Gesamtweltcups. Kurz: Der bescheidene Trafoier ist DER Skifahrer, das Maß aller Dinge und damit der, den es auch im Winter 1974/75 zu schlagen gilt.

In dieser Saison sind es gleich 2 Ausnahmetalente, die dem 24-jährigen Gustav Thöni gehörig auf die Pelle rücken und ihm das Skifahrerleben schwer machen. Da ist der Kärntner Franz Klammer (21), der in der Saison 1974/75 bis auf eine jede einzelne Abfahrt gewinnt. Und da ist der Schwede Ingemar Stenmark, der sich in den Jahren darauf zum Jahrhundert-Skifahrer krönen wird. In Gröden feiert er kurz vor dem Weltcupfinale am 18. März seinen erst 19. Geburtstag. Zu dem lädt er auch Gustav Thöni ein und gemeinsam stoßen sie in der Stube des schwedischen Teamhotels &bdquo;Zum Schwarzen Adler“ in St. Ulrich voller gegenseitiger Hochachtung darauf an. Stenmark steht noch ganz am Anfang seiner grandiosen Karriere. Zum Weltcupfinale in Gröden reisen die beiden großen Schweiger Thöni und Stenmark punktegleich an der Spitze des Weltcups an, Klammer liegt 25 Punkte hinter ihnen.

Premieren und Verrückte Schon die sportliche Ausgangslage ist spannend wie nie. Und dank der Klammer-Mania in Österreich, dem Hype um Rosi Mittermaier und Christian Neureuther in Deutschland und der Begeisterung, die Thöni und seine Kollegen der &bdquo;Valanga Azzurra“ in Italien ausgelöst haben, steht der Skisport Mitte der 1970er-Jahre im Zenit. Nie davor und nie danach löst er europaweit so viel Begeisterung aus…

… und so viel Irrsinn: So wird dem Cheftrainer der &bdquo;Azzurri“, dem bärbeißigen Mario Cotelli, vor dem alles entscheidenden Rennwochenende in Gröden ebenso mit Mord gedroht wie Franz Klammer. &bdquo;Ich habe Polizeigeleit gehabt von Kärnten bis nach Sillian, wo mich die Italiener übernommen haben“, erinnert sich Klammer. Aus der Bahn wirft ihn weder Drohung noch Polizeischutz, der Jahrhundertabfahrer gewinnt auch das Weltcuprennen auf der Saslong und schließt mit diesem Sieg im Gesamtweltcup vor dem finalen Parallel-Slalom zu Thöni und Stenmark auf.

3 Männer punktegleich an der Spitze, noch ein Rennen ausständig und für Thöni noch dazu ein &bdquo;Finale dorhoam“: Alles ist angerichtet für ein Highlight ohnegleichen. Eines mit einer großen Unbekannten: Zum ersten Mal hat der internationale Skiverband FIS nämlich einen Parallel-Slalom als letztes Rennen der Saison im Programm. Das Format hat man sich von der Profiserie in den USA abgeschaut, wo bereits seit Ende der 1960er Parallelrennen gefahren werden – als Kampf Mann gegen Mann. Auf Weltcup-Ebene ist man einen Parallel-Slalom noch nie gefahren, er sollte in Gröden getestet werden – wohl weil man davon ausgegangen war, dass der Gesamtweltcup bis dahin bereits entschieden sei. Aber erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt: Das Experiment Parallel-Slalom würde über den Ausgang der Weltcupsaison 1974/75 entscheiden.

Hitchcock-Feeling im Hexenkessel Tagelang fiebert man – nicht nur in Südtirol – auf das abschließende Rennen am Sonntag, 23. März 1975, hin. Schon in den Tagen vor dem Rennen sind die Zeitungen voll mit Interviews, Prognosen und bunten Stimmungsberichten aus Gröden, wo Journalisten Mehlspeisen in Form von Skifahrern ebenso entdecken wie skifahrende Holzskulpturen, die die traditionellen Heiligenfiguren aus den Schaufenstern verdrängen.

<a data-caption="Mehr als 30.000 Zuschauer, und als Protagonisten 2 junge Männer, die für eine historische Sternstunde im Skirennsport sorgten: Gustav Thöni (rechts, damals 24), und Ingemar Stenmark (gerade erst 19 geworden)." data-fancybox="inline-254739" target="_image" href="https://s3-images.sportnews.bz/_images/scale/1280x1280/img/2025/03/mehr-als-30000-zuschauer-und-als-protagonisten-2-junge-maenner-die-fuer-eine-historische-sternstunde-im-skirennsport-sorgten-gustav-thoeni-rechts-d.jpg"> Mehr als 30.000 Zuschauer, und als Protagonisten 2 junge Männer, die für eine historische Sternstunde im Skirennsport sorgten: Gustav Thöni (rechts, damals 24), und Ingemar Stenmark (gerade erst 19 geworden).

Der mediale Trommelwirbel im Vorfeld wirkt: Schon im Morgengrauen rollen Autos Stoßstange an Stoßstange nach Gröden, die natürliche Arena um den Ronc-Hang füllt sich nach und nach. 32.000 Zuschauer sorgen für eine Stimmung, die der in einem Fußballstadion ähnelt: Transparente werden entrollt, Fahnen geschwungen, Schlachtgesänge angestimmt und Bengalos abgebrannt. Für die Fahrer ist also nicht nur das Rennformat ein neues, sondern auch die Atmosphäre, die so manch einen pusht, andere aber auch einschüchtert – etwa dann, wenn die Gegner von Gustav Thöni nach jedem Lauf an den Massen vorbei mit dem Schlepplift zum Start fahren und nicht nur Schneebälle abbekommen, sondern auch die eine oder andere Spuckattacke. Für die aufgeheizte Stimmung sorgt auch ein Rennen, das einem Hitchcock-Thriller gleicht: mit Überraschungen und Schockmomenten, Drehungen und Wendungen und einem bis zum Schluss offenen Ende. Nur eines wird an diesem Tag schon früh klar: der Abfahrer Franz Klammer hat im Titelrennen keine Chance, er scheidet schon in der ersten Runde gegen Helmuth Schmalzl aus. &bdquo;Meine technischen Möglichkeiten waren beschränkt“, erinnert sich der Kärntner Jahrzehnte später. &bdquo;Wäre es ein flacher Hang gewesen, hätte ich eine Chance gehabt, auf diesem steilen, eisigen Hang aber war ich von Haus aus verloren.“

Dann waren’s nur noch zwei Während sich der Speedkönig Franz Klammer also früh aus dem Rennen um den Gesamtweltcup verabschieden muss, bleiben Thöni und Stenmark im Rennen, auch wenn’s für den Schweden im Viertelfinale gegen den Polen Jan Bachleda eng wird. Äußerst eng. Stenmark bleibt an einem Tor hängen, ein Aufschrei geht durch die Zuschauermenge und 30.000 nicht ganz objektive Experten sind sich einig: Stenmark hat eingefädelt! Das Kampfgericht ist anderer Meinung, Stenmark habe das Tor regelkonform passiert.

<a data-caption="Die Top 3 des Parallel-Slaloms vom 23. März 1975 in Gröden: Von links Ingemar Stenmark (2.), Sieger und Gesamt-Weltcupsieger Gustav Thöni und Walter Tresch (Schweiz/3.). © Sport-Archiv" data-fancybox="inline-254742" target="_image" href="https://s3-images.sportnews.bz/_images/scale/1280x1280/img/2025/03/die-top-3-des-parallel-slaloms-vom-23-maerz-1975-in-groeden-von-links-ingemar-stenmark-2-sieger-und-gesamt-weltcupsieger-gustav-thoeni-und-walter-t.jpg"> Die Top 3 des Parallel-Slaloms vom 23. März 1975 in Gröden: Von links Ingemar Stenmark (2.), Sieger und Gesamt-Weltcupsieger Gustav Thöni und Walter Tresch (Schweiz/3.). © Sport-Archiv

Was nun ausbricht, ist die Hölle: Die &bdquo;Azzurri“ legen Protest ein, die Diskussionen wogen hin und her, Anschuldigungen werden laut und keiner will sich auch nur einen Millimeter zurückziehen. Das salomonische Urteil: Der Videobeweis soll her. Allerdings ist das in Zeiten von Magnetbändern und einer in Rom zentralisierten Fernsehregie leichter gesagt als getan. 40 lange Minuten müssen alle – Läufer, Trainer, Zuschauer – auf die Zeitlupe warten, die ein RAI-Techniker aus Rom liefern soll. 40 lange Minuten, weil der Techniker gerade Kaffeepause macht. &bdquo;Das war ein Wahnsinn, es hat so lang gedauert“, erinnert sich Thöni. &bdquo;Es war belastend, aber wir haben versucht, uns nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Nur gewundert haben wir uns, dass so lange nichts weitergeht.“

Als der Fernsehtechniker in Rom seinen Kaffee getrunken hat (es scheint ein caffè lungo gewesen zu sein), kann das Rätsel endlich gelöst werden: Stenmark hat das fragliche Tor korrekt passiert, er bleibt im Rennen, muss aber 2,5 Sekunden auf Bachleda aufholen. Der Pole macht’s seinem Freund Stenmark leicht, er scheidet im 2. Lauf aus und schafft es kaum, seinem Ausscheiden einen natürlichen Anstrich zu verpassen. Allerdings ist Bachleda nicht der Einzige, der an diesem Tag nicht das Allerallerletzte aus sich herausholt. Auch Tino Pietrogiovanna beschert Gustav Thöni im anderen Viertelfinale einen Trainingslauf im Renntempo, indem er am ersten Tor verdächtig plump aussteigt.

Traumfinale mit Traumausgang Aus eigener Kraft oder mit gütiger Mithilfe der Gegner: Thöni und Stenmark schaffen es tatsächlich ins Finale des Parallelslaloms, es ist 13.20 Uhr, als sie am Start stehen. Spätestens jetzt sitzt ganz Südtirol gebannt vor den Bildschirmen, in Italiens Städten sind Plätze und Straßen leergefegt und das Serie-A-Spiel der AC Fiorentina in Florenz muss fast verschoben werden, weil die Mannschaft vor dem Fernseher die Zeit vergisst.

Gustav Thöni scheint von alledem, von der Anspannung entlang der Strecke, von der Nervosität eines ganzen Landes, wenig mitzukriegen. Er geht den ersten Finallauf an wie ein Besessener. Oder wie er selbst gewohnt abgeklärt sagt: &bdquo;Ich hatte das Glück, einen super Start zu erwischen, und das ist gerade beim Parallel- Slalom sehr wichtig. Wenn man auch nur ein bisschen vorn ist, wird der Gegner noch mehr gefordert, dann riskiert man automatisch viel mehr.“ Genauso ist es auch in Gröden: Der Raketenstart Thönis zwingt Stenmark zu einem extrem schnellen Rhythmus, er rutscht aus, lässt ein Tor aus und entscheidet so das Rennen um die Kugel.

Nie davor, nie danach Nach dem Aus Stenmarks verwandelt sich der Zielraum in ein Tollhaus, Tausende Fans skandieren Thönis Namen, die Carabinieri müssen dafür sorgen, dass der Held nicht von begeisterten Fans erdrückt wird. Selbst bei der Siegerehrung sind noch Zehntausende dabei, kaum jemand will die Stätte des Triumphs vorzeitig verlassen und alle, aber auch wirklich alle wollen einen Blick auf ihren Helden Gustav Thöni werfen. Er muss letztlich – mit der 4. großen Kristallkugel im Gepäck – im Heereshubschrauber aus der Menge &bdquo;evakuiert“ werden.

Das Weltcupfinale 1975 in Gröden hat ganz ohne Zweifel Maßstäbe gesetzt. Und so schreiben die &bdquo;Dolomiten“ am Tag danach: &bdquo;Nicht nur für den strahlenden Sieger, für ganz Südtirol ist der 23. März 1975 wohl der glanzvollste Sporttag aller Zeiten.“ Ein Tag, der – auch da sind sich die &bdquo;Dolomiten“ damals sicher – weit über den Skisport hinausstrahle: &bdquo;Kraft den Leistungen eines Gustav Thöni und vieler seiner Mannschaftskameraden, vornehmlich der Südtiroler, ist unser kleines Land zu einem echten Qualitätsbegriff geworden.“

Auch daran ersieht man: Das Weltcupfinale 1975 war für Südtirol ein Schicksalstag, und zwar nicht nur aus sporthistorischer Sicht. Es sollte der Welt zeigen, dass ein kleines, Jahrzehnte lang geschundenes Land Tritt gefasst hatte und auf dem Weg nach oben war: friedlich, begeistert, effizient. Und nicht zuletzt erfolgreich.

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