Der Braathen-Schock: Die möglichen Hintergründe

Sogar mein Vater war geschockt. Und der ist 83, wird bald 84. Aber er ist immer noch ein glühender Skifan, der kein Weltcuprennen auslässt im Fernsehen. Und der ein großer Fan von Lucas Braathen ist. Oder bis gestern war. Der Rücktritt des 23-jährigen Norwegers ist ein Riesenschock. Nicht nur für die vielen Fans, die er hat, nicht für die Journalisten, die den wohl schillerndsten Skivogel verlieren, vor allem für den Sport selbst.

Rückblende: Freitag, 27. Oktober, 11 Uhr. Im Teamhotel der Norweger sitzt Lucas Braathen im rosa Jancker und weißem T-Shirt mit einem violetten Herzen vor den TV-Kameras. In einem dreiminütigen Monolog verkündet er nicht etwa eine private Aktion zur Rettung des Regenwaldes im Heimatland seiner Mama Alessandra in Brasilien. Nein, er beginnt die kurzfristig anberaumte Pressekonferenz mit den Worten: &bdquo;Ich habe fertig.“ Mit leiser, monotoner, aber starker Stimme erklärt das mit Marco Odermatt größte Talent im Herren-Skirennsport die Beweggründe seines sofortigen Rücktritts.

<a data-caption="War im vergangenen Mai noch in St. Vigil in Enneberg und feierte mit den Südtiroler Nachwuchstalenten David Castlunger (links) und Alex Silbernagl (rechts): Lucas Braathen (Mitte)." data-fancybox="inline-179695" target="_image" href="https://s3-images.sportnews.bz/_images/scale/1280x1280/img/2023/10/war-im-vergangenen-mai-noch-in-st-vigil-in-enneberg-und-feierte-mit-den-suedtiroler-nachwuchstalenten-david-castlunger-links-und-alex-silbernagl-r.jpg"> War im vergangenen Mai noch in St. Vigil in Enneberg und feierte mit den Südtiroler Nachwuchstalenten David Castlunger (links) und Alex Silbernagl (rechts): Lucas Braathen (Mitte).

Er spricht von einem sportlichen Traum, den er sich erfüllen konnte im besten Herrenteam der Welt. Aber dass er zuletzt nicht mehr glücklich war. Nachdem er es &bdquo;rausgelassen“ hat, meint er: &bdquo;Zum ersten Mal seit einem halben Jahr bin ich glücklich, zum ersten Mal seit vielen Jahren fühle ich mich frei.“ 2.21 Minuten hält Braathen bei seinen Erklärungen durch, dann kommen die Tränen. Und: &bdquo;Ich gebe nicht aus Protest auf, oder weil ich verbittert bin. Ich will einfach ein anderes Leben führen.“

Dass er es leid ist, mit dem norwegischen Skiverband um mehr Rechte zu kämpfen, sei nur ein Mitgrund für den Rücktritt, meint Braathen. Er modelt für die Modemarke &bdquo;J. Lindeberg“ und stieß damit offenbar den norwegischen Verband vor den Kopf, der von &bdquo;Helly Hansen“ ausgestattet wird. Vor Braathen waren auch Aksel Lund Svindal und Henrik Kristoffersen im Clinch mit der norwegischen Verbandsführung gewesen.

Die unerwartete Nachricht Verwundert hat der Zeitpunkt des Rücktritts. Dies umso mehr, weil Braathen tags zuvor bei der Pressekonferenz der norwegischen Skiherren noch bereitwillig Auskunft gibt über seine sportliche Zukunft (&bdquo;mein Traum ist es, mehr Super-G zu fahren“), einen Rückblick auf den Sommer macht (&bdquo;ich bin viel mit Freunden herumgereist und war erstmals seit Jahren wieder in Brasilien, der Heimat meiner Mutter“) und über den Hang von Sölden spricht (&bdquo;schwieriger Hang für Skifahrer mit guter Technik“). Von Verdrossenheit keine Spur. 24 Stunden später kommt beim größten Exzentriker im Skiweltcup die komplette Kehrtwende. &bdquo;Ich wollte raus, und jetzt bin ich raus. Und glücklich damit.“ Ob Braathen, der sich wegen seiner extravaganten, zumeist femininen Kleidung, aber auch seiner bunt angemalten Fingernägel viel Kritik gefallen lassen musste und seine Freiheit auch deshalb eingeschränkt sah, weiß nur er selber.

Dass im Weltcup der menschliche Aspekt, die Wärme, sehr oft zu kurz kommt, ist ein offenes Geheimnis. Und dass routinierte Fahrer mitunter nicht unbedingt Hilfesteller sind für die &bdquo;Jungen“, sondern viel eher ihren Status als Platzhirsch verteidigen, ebenfalls. Dazu kommen die verbal nicht immer vorbildlichen Verhaltensregeln. Wobei: Im norwegischen Herrenteam war Braathen höchst angesehen und akzeptiert. Wenn er jetzt seinen Rückzug antritt, dann verliert der Weltcup seine herausragende Figur, die dem verstaubten, oft langweiligen Zirkus extrem gut getan hätte die nächsten 10 Jahre. Mach's gut Lucas, deine Lücke wird nicht zu schließen sein.

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