Kolumne: Die Schattenseiten des Leistungssports

Es muss wunderbar sein. Die Welt entdecken. Raus aus dem so grauen Alltag. Andere Länder kennenlernen, andere Sitten und Gebräuche, andere Landschaften. Gut, das mit den Landschaften klappt bei den winterlichen Spitzensportlern. Doch schon mit den in anderen Regionen üblichen Gegebenheiten und Gewohnheiten wird es schwierig. Als Sportler, als Reporter übrigens auch. Die Vorfreude ist natürlich schon kribbelig. Und nehmen wir an, es geht weiter weg. Mit dem Flugzeug. Leider Holzklasse, überall wird jetzt gespart.

Man nimmt zunächst gerne in Kauf. Landung. Als Biathlet ist das ein Irrsinn. Waffenkontrolle. Ich glaube, ich muss das nicht näher erklären. Es ist Stress pur. Schon ohne Waffe. Alleine die Computereinheit für die Übertragung erweckt Argwohn. Geschafft. Die vollgepackten Taschen kommen an, der Shuttle des Veranstalters wartet. Ein Blick aus dem Fenster des Fahrzeugs. Aha. So sieht das hier aus. Mehr an Eindrücken an Land und Leuten wird es nicht geben. Und das bleibt so. Ich habe die Welt gesehen und doch nur Flughäfen, Hotels, Stadien oder Sporthallen. Den Athleten geht es ähnlich.

Johannes Thingnes Bö ist zurückgetreten. © ANSA / ANDREA SOLERO

Gut, man könnte jetzt einwerfen, dass man ja bleiben könnte. Noch ein paar Tage dranhängen für Sightseeing. Wäre schön, ja. Doch die nächsten Termine warten schon. Der Wettkampfkalender ist voll. Wieder Koffer packen und ins nächste Hotel. Das geht am Anfang ganz gut. Man denkt ja nicht viel nach, schließlich hat man sich dieses Leben so ausgesucht und wenn man ehrlich ist, auch irgendwie gewünscht.

Sehnsucht meldet sich Doch dann ändert sich dieses Leben. Es kommt eine Familie dazu. Und die Perspektiven sind nicht mehr die gleichen. Sehnsucht gesellt sich hinzu. Ein neues, bislang noch unterdrücktes Gefühl wird immer stärker. Und plötzlich wird das Flugticket zur Last und nicht einmal der Lockruf Olympischer Spiele kann das verhindern. Aus. Johannes Thingnes Bö und auch sein Bruder Tarjei haben ihre Karriere nicht nur deshalb beendet, weil sie sich nach Jahren der Trainingsfron nicht mehr in der Lage sahen, sich mit gewohnter und für Spitzenleistungen eben notwendiger Inbrunst auf ihren Sport zu werfen.

Tarjei Bö hört auf. © ANSA / ANDREA SOLERO

Geburten gab es, Hochzeiten. Johannes, der jüngere, hat erzählt, dass er über die Weihnachtsfeiertage zuhause in Norwegen seinen beiden Kindern keinen Kuss geben konnte, weil sie ein wenig kränklich waren. Nicht irgendwie schlimm. Aber er durfte sich nicht anstecken. Das hat letztlich den Ausschlag gegeben, nach dieser Saison Schluss zu machen. Er hätte mit seinem Talent sicher noch bis Antholz (dort werden die Biathlon-Wettbewerbe im Rahmen der Olympischen Spiele Mailand/Cortina ausgetragen) konkurrenzfähig bleiben können.

Auch mit weniger Aufwand. Aber eben nicht ganz ohne Einsatz und den vielen Tagen fern von zuhause, von den Kindern und der Frau. Im Grunde hat er einen Schlussstrich gezogen, den viele sicher in ihren Gedanken mit sich tragen. Gerade die älteren, egal in welcher Sportart. &bdquo;Mama, wo ist der Papa?“ &bdquo;Schau, da im Fernsehen kannst Du ihn sehen.“

Gesundheit geht vor Und dann ist da noch das Thema Gesundheit. Wer meint, sein Körper würde die Jahre des zehrenden Leistungssports völlig unbeschadet überstehen, irrt vermutlich gewaltig. Glücklich letztlich der, der die Zeichen der Zeit erkennt, bevor es zu spät ist. &bdquo;Ich möchte einen Körper behalten, der Spaß und Spiel mit meinen Kindern aushält“, sagte Jarl Magnus Riiber, der König der Nordischen Kombinierer, kürzlich. &bdquo;Und deshalb wird diese Saison meine letzte sein“, tat er in Seefeld kund, dem Mekka der Kombinierer. Es sei bei ihm die Krankheit &bdquo;Morbus Crohn“ diagnostiziert wurden, teilte er in aller Offenheit mit und wies auch noch darauf hin, dass ihn diese wohl sein weiteres Leben lang begleiten werde.

Sportlich ist er auf einer Stufe mit Johannes Thingnes Bö. Mindestens. Aber sie sind auch Brüder im Geiste. &bdquo;Jetzt“, so sagte Riiber“, will ich das Leben mit denen teilen, die immer auf mich gewartet haben.“ Das hätten auch die norwegischen Biathleten Johannes und Tarjei sagen können. Die Schattenseiten des bisherigen Lebens wurden bislang immer verdrängt bei den drei Norwegern, die nun zurückgetreten sind. Siege und Medaillen überdeckten die Probleme.

Ihre Beweggründe haben indes noch einmal schonungslos offenbart, wie viele Opfer der Leistungssport fordert. Körperlich, aber vermutlich noch viel mehr mental. Der Rücktritt vom Rücktritt einer Lindsay Vonn mit 40 Jahren ist die absolute Ausnahme. Und ich bin sicher, hätte die US-Amerikanerin einen Stall voll Kinder zuhause und eine Familie, wäre es nie dazu gekommen.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport (u.a. Biathlon) widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der ganzen Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

Fußball

Italien

Internationale Ligen

International

Eishockey

Tennis

Wintersport

Mehr

Motorsport

Radsport

Wassersport

Events

Favoriten

Kolumne: Die Schattenseiten des Leistungssports

Die Rücktritte der norwegischen Skiasse Johannes Thingnes Bö, Tarjei Bö und Jarl Magnus Riiber machen für unseren Kolumnisten Sigi Heinrich noch einmal deutlich, wie aufopferungsvoll und entbehrungsreich in jeder Beziehung der Spitzensport ist.

Kommentare (0)