Undurchschaubare Wechselspiele

Wir fiebern mit und feuern unsere Sportler und Sportlerinnen an. Im Stadion, an der Biathlonstrecke, im Zielraum einer Abfahrt oder in irgendeiner Halle beim Basketball, Handball oder beim Eiskunstlaufen, wie zuletzt in Kaunas bei einer Europameisterschaft. Wir wollen ja Medaillen und natürlich tolle Leistungen der Vertreter unseres Landes. Schließlich, so die landläufige Meinung, unterstützen wir sie ja irgendwie mit unseren Steuergeldern. Indirekt zwar meistens, aber irgendwie halt doch. Und da möchten wir gerne auch etwas zurück bekommen von unseren Investitionen. Außerdem wollen wir mit unseren Athleten natürlich auch unsere Stärke demonstrieren.

Schon immer haben etwa autokratische Systeme die Erfolge der Sportler für Propagandazwecke missbraucht. Der Sport ist das Aushängeschild für den Staat, für die Politik. Anders, aber auch im Grunde mit dem gleichen Anspruch, ist das indes auch in Staaten mit demokratischen Strukturen. Nur wird das dort feinfühliger verkauft. Doch letztlich haben alle das gleiche Ziel. Sie wollen, dass ihre Sportler vorne sind, dass sie gewinnen, dass sie, wie das so wunderbar oft heißt, Ehre einlegen für ihr Land. Sportliche Erfolge können auch, für einen gewissen Zeitraum wenigstens, für etwas Euphorie sorgen, wenn schon ansonsten eher Tristesse herrscht aus vielerlei Gründen. Überall, in allen politischen Systemen. Die Müdigkeit gegenüber staatlichen Verordnungen, die Unzufriedenheit, wird mit dem Gewinn einer Meisterschaft oder wenigstens guten Ergebnissen für kurze Zeit an den Rand gedrängt. Und wenn wir keine konkurrenzfähigen Sportler haben? Kein Problem.

Ein wildes Wechselspiel Ich habe wie jedes Jahr wieder viele Stunden mit der Europameisterschaft im Eiskunstlaufen als Kommentator bei Eurosport verbracht und durfte dabei feststellen, dass hier vermutlich die Lösung aller Probleme gefunden wurde. Europa läuft und springt sich frei. Österreich etwa hatte keine Teilnehmer mehr. Kein Problem. Ein Südtiroler (Maurizio Zandron) hilft aus der Verlegenheit. Ich habe mir allerdings einmal erlaubt, seine wahre Identität zu sagen und schon bekam ich bitterböse Nachrichten aus Österreich. Der sei Österreicher, habe einen österreichischen Pass und trainiere auch in Österreich bei einer Österreicherin. Basta. Europafeeling? Es klappt halt doch noch nicht so richtig. Auch Kroatien bekommt Schützenhilfe. Dort springt Jari Kessler ein, der sogar noch in Kaltern lebt, während Zandron immerhin in Innsbruck zuhause ist. Die Südtiroler sehen das eher lässig. Man ignoriert mehr oder weniger die Tatsache, dass beide der Heimat den Rücken kehrten, weil sie als Italiener keine Chance gehabt hätten, international zu starten, weil die heimische Konkurrenz zu stark ist. Für Südtirol punkten sie trotzdem noch. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung wird negiert, dass sie andere Länder vertreten. Allerdings ist das im Eiskunstlauf längst gängige Leseart.

Maurizio Zandron startet für Österreich. © APA/afp / DANIEL MIHAILESCU

Vor allem im Paarlauf und im Eistanz ist die Nationalitätenbezeichnung längst eine Farce, wobei in diesem Sport die Möglichkeit, für ein anderes als das Geburtsland zu starten, auf die Spitze getrieben worden ist. Ein paar Beispiele nur. Diane Davis ist eine US-Amerikanerin (Las Vegas). Ihr Partner Gleb Smolkin ist Russe. Sie starten für Georgien und umgehen so die Sanktionen gegen russische Sportler, die auch im Eiskunstlauf nicht starten dürfen. Gräbt man tiefer in die Personalien, ist Russland allgegenwärtig. Die Mutter von Davis und Smolkins Vater waren in Russland aktive Sportler. Georgien hat die Türen noch weiter geöffnet. Im Paarlauf ist es besonders intensiv. Anastasia Metelkina und Luka Berulava sind Russen, trainieren auch in Perm und dürften nicht starten, wären sie jetzt nicht plötzlich für Georgien auf dem Eis. Auch die letztjährige Europameisterin und Zweite in diesem Jahr, Anastasiia Gubanova, ist Russin, startet für Georgien und trainiert weiterhin in St. Petersburg. Diese gängige Praxis ist keine Ausnahme mehr.

Qualifikationen als Farce Ich bin auch so frei und weise darauf hin, dass die deutschen Paarlauf-Olympiasieger 2018 in Südkorea eine internationale Kombination waren. Aljona Savchenko war gebürtige Ukrainerin, ihr Partner Bruno Massot Franzose. Nach dem Gewinn der Goldmedaille haben sich ihre Wege wieder getrennt. Aber für ein paar Tage waren sie das deutsche Traumpaar auf dem Eis. Jetzt bildet die Paarläuferin Minerva Fabienne Hase mit dem Russen Nikita Volodin ein Eislaufpaar. Das hat vor allem damit zu tun, dass es einfach nicht genug gute Eiskunstläufer und Eiskunstläuferinnen gibt, um die Starterfelder zu füllen. In manchen Jahren war gar die Qualifikation eine Farce, weil nicht einmal genügend Teams am Start waren, um im Kurzprogramm eine Ausscheidung zu laufen. Vor allem deshalb hat die Internationale Eislauf-Union (ISU) ihre Regeln gelockert. Sieht man es mit den Augen eines im wahrsten Sinn des Wortes grenzenlosen Europäers, ist das im Grunde keine schlechte Lösung. Europäer auf dem Eis, vereinigt euch. Prima. Aber sind wir schon so weit, einfach nur auf die Leistung zu schauen ohne auf die Nationalität derer zu achten, die sie zeigen?

Natürlich sind wir das nicht. Wir nähern uns eher wieder einer wenig erbaulichen Kleinstaaterei, verbunden mit einem Nationalstolz, der gerade in eine gefährliche Rechtskurve einbiegt. Für die Olympischen Spiele gelten indes andere Regeln als für die Europa- oder Weltmeisterschaften. Die Teilnehmer müssen die Staatsbürgerschaft haben für das Land, das sie vertreten. Italien ist diesbezüglich übrigens ein großes Vorbild. Fast alle möglichen Olympiastarter für Mailand/Cortina 2026 im Eiskunstlauf haben das Licht der Welt in Italien erblickt.

Der Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises), Buchautor und Kommentator der ersten Stunde bei Eurosport (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert darüber hinaus auch gerne in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst und nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Undurchschaubare Wechselspiele

Im Eiskunstlaufen werden Nationenwechsel auf die Spitze getrieben. Unser Kolumnist Sigi Heinrich hat bei den Europameisterschaften in Kaunas (Litauen) eine Zunahme dieser Praxis registriert. Dabei werden auch die Sanktionen gegen Russland elegant umgangen.

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