Neben dem WM-Ort: Hier verlieren Menschen Haus und Hof

Er sticht mir bereits bei der Anreise von St. Moritz kommend ins Auge: Ein riesengroßer Hangrutsch oberhalb eines kleinen, idyllisch auf einem Plateau gelegenen Bergdörfchens. Laut meinem Navi nur wenige Fahrminuten von der Biathlon-Arena im Lenzerheider Ortsteil Lantsch entfernt.

Bevor ich mich an meinen Arbeitsplatz begebe, checke ich in meiner Unterkunft ein, die auf halber Strecke zwischen Davos und Lenzerheide liegt. Beim Verlassen des Hotels meint der Herr am Empfangspult: &bdquo;Passen sie auf, die Straße nach Lenzerheide bewegt sich.“ Ich bin in Eile, lächle unwissend und setze mich ins Auto. Als ich wenig später durch Mulden und über Hügel ruckle, Absperrgitter und Warnschilder passiere, wird mir klar, was der Rezeptionist meinte: Der Berg, den ich bei der Hinfahrt bereits gesehen hatte, ist in Bewegung.

Einige Straßen rund um Brienz sind seit Jahren gesperrt. © ANSA / GIAN EHRENZELLER

Als ich eine durchgestrichenes Ortsschild mit der Aufschrift &bdquo;Brienz“ passiere, wird mir klar, um was für einen Ort es sich hier handelt. Das Dorf ging erst vor wenigen Monaten weltweit durch die Medien. Eine gewaltige Fels- und Schuttmasse von 1,2 Millionen Kubikmetern bewegt sich immer schneller talwärts, gerade aus auf Brienz zu. Der Ort selber rutscht an manchen Tagen bis zu 30 Centimeter ab. Die Folge: Die 91 Bewohnerinnen und Bewohner mussten im November ihre Häuser mitsamt ihren Haus- und Nutztieren verlassen. Und das bereits zum zweiten Mal binnen anderthalb Jahren. Sie wurden in den umliegenden Gemeinden untergebracht, mittlerweile wird an einem Finanzierungsplan für eine dauerhafte Umsiedlung gearbeitet.

Mein Job ist es, dieser Tage vom sportlichen Geschehen bei der Biathlon-Weltmeisterschaft zu berichten. Und doch lässt mich das Schicksal dieser Personen nicht los. Das Geisterdorf liegt bei meiner täglichen Fahrt zur Arbeit in Sichtweite, aufgrund der weiträumigen Absperrung muss ich einen rund 10-minütigen Umweg nehmen. Die Roland Arena in Lantsch, dort wo WM-Medaillen gefeiert und bejubelt werden, liegt exakt 3,8 Kilometer Luftlinie entfernt von dem Ort, an dem gerade Menschen ihre gesamte Existenz verlieren. Also beschließe ich, mich in Lantsch etwas umzuhören, mehr über diese Leute zu erfahren.

Nach Biathlon ist niemandem zumute Allerdings merke ich rasch, dass niemand wirklich darüber sprechen möchte. &bdquo;Hier bei uns im Ort sind einige der betroffenen Familien untergebracht, mehr weiß ich nicht“, sagt mir eine Einwohnerin im kleinen Lebensmittelladen. Direkt gegenüber am Eingang der einzigen Bar des WM-Orts sagt eine Frau, die ihren Namen nicht im Internet lesen möchte, &bdquo;Ich kenne die ein oder andere Person aus Brienz“, allerdings fügt sie hinzu, dass diese Personen sicherlich nicht sprechen möchten. &bdquo;Zviel gschnorred“, sagt sie mit Schweizer Zungenschlag. Zuviel geredet hätten sie. Die Evakuierten seien enttäuscht von den Behörden, von der ständigen Ungewissheit zermürbt. In einer eingerichteten Webcam können sie beobachten, wie sich der Hang, ja der ganze Berg auf ihre Heimat zubewegt.

Angesichts dessen verstehe ich, weshalb die Betroffenen aktuell nichts mit Sport zu tun haben möchten. Bei der WM sind weder Mitarbeiter noch Freiwillige Helfer oder eingeladene Gäste aus Brienz anzutreffen sind. Während hier sportliche Dramen geschrieben werden, müssen die Bewohner des Geisterdorfs gleich um die Ecke ganz andere Tragödien erleben.

Das relativiert vieles – auch den Grund für meine Reise hier her in diese besondere Ecke der Schweiz. Ich fühle mit den Betroffenen und freue mich, zumindest ein paar Zeilen positiven Inhalts über dieses menschliche Drama schreiben zu dürfen: Vergangenen Samstag – während sich Johannes Thingnes Bö in der WM-Arena als Weltmeister feiern ließ – kehrten die Einwohner des Geisterdorfs erstmals kurzzeitig zu ihrem Hab und Gut zurück. Zumindest für 2 Stunden.

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Neben dem WM-Ort: Hier verlieren Menschen Haus und Hof

Exakt 3,8 Kilometer Luftlinie liegen zwischen dem feiernden Biathlondorf und einem Geisterdorf, in dem sich gerade menschliche Tragödien abspielen. Unser Redakteur bewegt sich am Rande der Biathlon-WM in der Schweiz zwischen Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

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