Kolumne | Nur Dorothea Wierer bleibt gelassen

Noch ist nichts, absolut nichts passiert. Und doch drängt sich der Eindruck auf, dass sich der Biathlonsport gemein, ungerecht, ja fast skandalös gegenüber seinen Protagonisten verhält. Halt: Vor allem und fast ausschließlich gegenüber seinen besten Athleten und Athletinnen.

Dagegen hilfreich vielleicht gegenüber denen, die noch keine großen Lorbeeren eingefahren haben. Doch die haben natürlich keine Lobby und finden auch kaum Gehör, denn gefragt werden zu den Veränderungen in der kommenden Saison in erster Linie die Stars. Sie verlieren vormalige Privilegien: Die Wahl einer für sie genehmen Startgruppe. Jetzt sollen sie in einer ersten Testphase bis Ende dieses Jahres Startnummern von 46 bis 75 erhalten, wenn sie sich unter den besten 30 des Gesamtweltcups befinden. Das klingt auf den ersten Blick so, als würde Erfolg bestraft werden. Gesamtweltcup-Siegerin Lisa Vittozzi ist von der neuen Startregelung nicht begeistert. © ANSA / MARTIN DIVISEK

Der Aufschrei ist groß. Eine kleine Auswahl: Lisa Vittozzi, Gesamtsiegerin der vergangenen Saison sagt, dass es am Ende keine Rolle spiele, was die Athleten wollen. Johannes Kühn. Mitglied der Athletenkommission, meint: &bdquo;Das entspricht nicht meiner Vorstellung des Leistungsprinzips.“ Athletensprecher Sebastian Samuelsson aus Schweden hat sich umgehört: &bdquo;Ich weiß, dass ein Großteil der Biathleten dagegen ist.“ Und Superstar Johannes Thingnes Boe glaubt, in die Zukunft schauen zu können. &bdquo;Wir werden Zuschauer verlieren. Niemand will 40 Minuten warten, bis endlich die Top-Athleten schießen.“ Nur Dorothea Wierer gibt sich gelassen: &bdquo;Ich finde, wir sollten das einfach mal in diesem Winter testen. Es geht ja auch um die Zukunft unseres Sports.“

Wieder erhöhte Preisgelder Es ist Feuer unter dem Biathlondach, denn irgendwie versucht man gerade die Quadratur des Kreises zu finden. Auf der einen Seite sind die Preisgelder für die Athleten auch in diesem Jahr wieder erhöht worden. Dagegen findet sich von den Aktiven kein Widerspruch, schon gar nicht von den Besten, die vornehmlich in den Genuss der Zuwendungen kommen. Natürlich und verständlich. Nur darf man dann auch der Frage nicht ausweichen, woher denn die Summen kommen, die ausgelobt werden. Ein Weltcupsieg wird mit 15.000 Euro honoriert. Insgesamt kommt man für Weltcup, IBU-Cup und Weltmeisterschaften auf fast zehn Millionen Euro.

Das Geld fällt natürlich nicht wie Schneeflocken vom Himmel. Es sind Sponsoren und Fernsehanstalten, die für das finanzielle Gerüst des Internationalen Biathlon-Verbandes (IBU) sorgen. Und letztlich kommt die finanzielle Grundversorgung auch nur dann zustande, wenn das Produkt beim Konsumenten, also beim Zuschauer, gut ankommt. Einschaltquoten heißt das Zauberwort. Auf der anderen Seite soll ja immer allen eine perfekte Bühne präsentiert werden, auf der sie ihre Leistungen optimal abrufen können.

Ich kommentiere seit 26 Jahren für Eurosport Biathlon. Alles. Europameisterschaften, Weltcup, Weltmeisterschaften und Olympische Wettkämpfe. Mich oder meine Kollegen hat noch niemand gefragt, was wir von der neuen Startregelung halten. Wie das etwa so ist, wenn die aussichtsreichsten Biathleten und natürlich auch Biathletinnen ihre Rennen beendet haben und noch 70 weitere an den Start gehen, die erfahrungsgemäß keine Chancen mehr haben. Dann, lieber Johannes Thingnes Boe, schaut nämlich auch niemand mehr zu, nachdem Du im Ziel bist, weil sich die Veranstaltung unglaublich zäh in die Länge zieht. Ich kann mich an Rennen erinnern, da hat ein Martin Fourcade sich freiwillig in die letzten Startgruppe losen lassen, weil er hoffte, dass sich aufgrund veränderter Witterungsverhältnisse Vorteile für ihn ergeben könnten. Dankbar waren wir alle, denn nun hielt die Spannung bis zum Ende. Ein Traum für mich und für die Fans. Biathlon (hier Johannes Thingnes Boe) lebt – wie fast alle Sportarten – von den Sponsoren. © APA/afp / FABRICE COFFRINI

Viel ist jetzt von Fairness die Rede. War es bislang fair, die nicht so guten Aktiven durch möglicherweise schon abgenutzte und schlechtere Loipen zu jagen. Und nur das Beste für die Besten? Im alpinen Bereich startet der Schnellste im ersten Durchgang des Slaloms als Letzter in den entscheidenden Lauf. Und da ist sicher die Piste stärker in Anspruch genommen worden, als das im Biathlon der Fall sein wird. Längst regt sich darüber niemand mehr auf. Ein wenig Gelassenheit täte der Garde der Skijäger momentan ganz gut und ja, ich finde die neue Startregelung erst einmal gut. Sie weitet den Spannungsbogen der Übertragungen bis zum finalen Schuss aus. Das ist ganz in unserem Sinn und auch prima für die Fans. Und außerdem gilt auch hier das Motto: Stillstand ist Rückschritt. Es ist schließlich keine Revolution, die stattfindet, sondern lediglich eine Anpassung an die marktüblichen Abläufe. Ich freue mich jedenfalls auch wieder auf die nächste Saison. An Themen herrscht ja schon jetzt kein Mangel.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Vielfalt des Sport und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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