Eine tödliche Kamerafahrt auf dem Motorrad

Wir sitzen bequem auf dem Sofa. Fernseher läuft. Sport. Irgendwas kommt irgendwo immer. Klar, wir müssen, wenn wir wirklich überall dabei sein wollen, schon argumentativ ziemlich einfallsreich sein, um vor unserem Herzblatt die Zusatzausgaben für alle Programme zu rechtfertigen. Der Kuchen nämlich ist nicht in einzelne Stücke verteilt worden, sondern in Brösel. Alle kämpfen dabei um Marktanteile, um TV-Quoten, die helfen sollen, um am Werbemarkt erfolgreiche Akquise betreiben zu können. Die gesendeten Bilder sind dabei natürlich von enormer Bedeutung. Mittendrin und nicht nur irgendwie mit dabei sein, lautet die Devise. Wir, die wir von außen zuschauen, sind Voyeure der Sensationen geworden. Der Aufwand, der dafür betrieben wird, sprengt so manches Budget der Veranstalter, auch wenn die Technik hilft. Wir wollen Schweißtropfen sehen, die Mühen der Aktiven miterleben, ihre Anstrengungen dabei bewundern. Oder auch nur einen Einblick erhalten in das System. Mit Minikameras, die quasi schon an jeder Stelle eines Sportgerätes angebracht werden können. Wir sehen die Formel-1-Strecke längst aus Sicht des Piloten und legen uns auf unserer weichen Unterlage gerne mit den Cracks der Motorradszene waghalsig in die Kurven. Die Sportübertragungen kitzeln unsere Nervenzellen. Langeweile ist verboten. Wir zahlen schließlich dafür, dass wir praktisch direkt in die Blutbahn der Sportler eingeschleust werden. Wir wollen Action. Nähe sorgt für Gefahr Die Auswirkungen freilich sind mitunter schwer beherrschbar. Ich habe 2015 den Slalom von Madonna di Campiglio kommentiert, als Marcel Hirscher im zweiten Durchgang plötzlich für einen kurzen Moment die Balance zu verlieren schien. Was war passiert: Eine Drohne, die seinen Lauf von oben filmte, krachte zu Boden. Nur einen Hauch hinter ihm. Man muss über keine prophetischen Gaben verfügen, um sich ausmalen zu können, was passierten hätte können, wenn die fliegende Kamera den Athleten getroffen hätte. Wenn die Rad-Elite bei ihren Rundfahrten in Europa hautnah durch eine Gasse begeisternder Fans fahren, fürchtet man mitunter um die Gesundheit der Protagonisten. Meist geht alles gut und vermutlich ist es auch unmöglich, eine Etappe gänzlich mit Zäunen zu sichern. Davor kommt ja zudem der gesamte Tross der Begleitfahrzeuge und natürlich die Motorradfahrer mit Kameramännern, die rücklings hinter dem Fahrer sitzen. Sie zoomen in die Gesichter und auf die Beine. Sie sausen zwischen denen, die in Führung liegen und dem Peloton hin und her. Und es gab in der Vergangenheit nicht wenige Situationen, in denen nur mit viel Glück und sicher auch Geschick Katastrophen vermieden werden konnten. Vor allem die Zielräume im Radsport sind ein steter Gefahrenherd und es grenzt im Grunde beinahe an ein Wunder, dass es bislang nur bei Verletzungen geblieben ist. Doch nun ist es passiert. Beim Ironman in Hamburg kollidierten auf einer viel zu engen Passage, bei der es auch noch Gegenverkehr gab, ein Motorradfahrer mit Kameramann und ein Radsportler, der sich auf der zweiten Teiletappe seines Triathlons befand. Mit schweren Verletzungen wurde der Radfahrer in die Klinik eingeliefert. Der Motorradfahrer starb noch an der Unfallstelle. Sein Kameramann blieb äußerlich unverletzt. Der Wettkampf wurde dennoch fortgeführt. Das ist eine irritierende Entscheidung, die kaum nachvollziehbar ist. Deutschlands bester Triathlet Jan Frodeno, der Vierter wurde, fand hinterher kaum Worte, zumal er den Unfall am Rande wohl mitbekommen hat, soweit das möglich war, denn natürlich ist der Kopf tief gebeugt über dem Lenker, um den Windwiderstand zu minimieren. Der Unfall ist eben auch das Resultat einer visuellen Berichterstattung, die nur dann scheinbar als zeitgemäß betrachtet wird, je näher man an den Athleten ist. Das führte auch schon zu moralisch verwerflichen Aktionen, die auch sexistisch sind, wie etwa beim Klettern. Da gab es einen Skandal vor zwei Jahren, als die Kamera lange auf dem Po einer Athletin verweilte. Und das wurde auch noch in Zeitlupe gezeigt. Es ist Zeit, den Sportlern wieder ein Stück Intimität zurückzugeben und es ist auch notwendig, die Veranstalter in jedweder Hinsicht in die Pflicht zu nehmen. Es darf und soll wieder ein bisschen mehr Abstand sein in Zukunft, denn letztlich ist die Ausübung einer Sportart ja auch eine private Angelegenheit, auch wenn sie oft nur dann im obersten Leistungsbereich möglich ist, wenn sie öffentlich gemacht wird. Der Tod des Motorradfahrers in Hamburg muss ein Weckruf sein. Beobachten ist gut und soll auch sein. Voyeurismus hat nichts verloren. Der Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist und Eurosport-Kommentator (u.a. Deutscher Fernsehpreis, Bayerischer Sportpreis, Biathlon-Award und World-Sports-Trophy) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch mal in anderen Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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