Sigi's Spitzen | Sinner weckt Erinnerungen an Becker

Man hätte nur zu gerne auf die Machtdemonstration der Natur in den letzten Tagen verzichtet, zumal wir auch sprachlich jetzt in einer neuen Dimension angekommen sind. Früher sprachen wir noch von Hagelkörnern. Erbsengroß vielleicht, von denen wir viele noch in einer Hand halten konnten. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. Hagelbälle müsste man jetzt sagen. Größer noch wie Golfbälle rasten sie mit Geschwindigkeiten von 150km/h auf die Erde zu und zerstörten, was ihnen in den Weg kam. Dächer wurden durchlöchert, Autos demoliert, Photovoltaikanlagen zu Brei gerührt. Eine Kugel gefrorenes Eis passte gerade so in eine Hand und fühlte sich in etwa so an wie ein Tennisball aus dem Kühlschrank.

Aber wir wollen in diesen Tagen, an denen Jannik Sinner gegen Novak Djokovic um den Einzug ins Finale in Wimbledon spielt, nicht an die Hagelbälle denken, sondern hoffen, dass der Wahlmonegasse aus Südtirol seine Tennisbälle so trifft, dass es vielleicht sogar gelingt, den auf dem heiligen Rasen schier unbesiegbaren Serben zu bezwingen. Sie schimmern zudem ja jetzt Gelb. Bis 1986 hatten sich die Engländer nämlich beharrlich, wie es ihre Art ist, geweigert, die neue Farbe zu akzeptieren. Bis dahin sahen sie tatsächlich noch aus wie die aktuellen Hagelbälle. Und kühl fühlen sie sich zunächst auch an, denn sie werden vor der Verwendung unter Verschluss gehalten und bei 20 Grad Celsius gekühlt, um einen optimalen Zustand zu gewährleisten vor ihrer Verwendung.

Den Ball im Fokus: Aryna Sabalenka schlägt zu. © ANSA / NEIL HALL

Mehr als 54.000 Bälle werden während der 14 Tage in Wimbledon verbraucht und angesichts der mittlerweile ständig präsenten Diskussion um Nachhaltigkeit stellt sich natürlich die drängendste aller Fragen: Was machen die Kugeln, wenn sie verbraucht sind und von der Wucht der Schläge ihre Festigkeit nachlässt? Sie schmelzen ja nicht wie ihre ungewöhnlichen Vettern, die in ihrem Kern aus Eiskristallen bestehen, die aus dem oberen eisigen Teil der Gewitterwolke in ein Aufwindgebiet hineinfallen. Durch den Aufwind wird dieser Eiskern gebremst und beginnt in ungefähr gleichbleibender Höhe ständig zu wachsen. Wenn sich dann noch sogenannte Superzellen entwickeln, können die Hagelkörner die Größe eines Tennisballes erreichen mit einem Durchmesser von eben mindestens 6,54 Zentimeter.

Was passiert mit den alten Bällen? Wenn der Schiedsrichter sagt: &bdquo;Neue Bälle“, dann beginnt ein anderes, nicht mehr so aufregendes Leben für die alten Bälle. Jetzt drischt kein Jannik Sinner mehr auf sie ein, sondern schlicht der berühmte Otto-Normalverbraucher. Die etwas 250 Balljungen und -mädchen sammeln die Bälle nach jedem Tag ein, die dann für umgerechnet etwa drei Euro (Sechserpack fünf Euro) am Wimbledon Foundation Kiosk verkauft werden. Es ist ein tolles Souvenir. Es sind die Bälle der Stars. Nicht verkaufte gebrauchte Bälle werden gespendet oder recycelt.

Balljungen sind gefragt. © APA/afp / ADRIAN DENNIS

Es ist vor allem auch die Gummiinnenseite der Bälle, die verwendet wird für neue Bodenbeläge in Tennishallen. Und schon vor dem Turnier freute sich der Naturschutz. Der UK Wildlife Trust bekam von den Organisatoren nämlich schon vor dem Turnier einen Schwung Bälle geschenkt, die auch kein langes Leben hatten. Sie werden nämlich zerschnitten und als Behausung für Jagdmäuse verwendet. Das ist Tradition, wie so vieles bei diesem Turnier, das selbstverständlich auch klaren Regeln folgt. Nach sieben Sätzen gibt es in jedem Match schon neue Bälle, dann nach neun.

US-Open haben den größten Bälleverschleiß Wir wundern uns natürlich immer, warum sich alle Akteure stets vier Bälle zuwerfen lassen (mehr dürfen es übrigens laut Reglement auch nicht sein). Aber tatsächlich ist es so, dass nach einem schnellen Test die Spieler merken, ob ein Ball an Festigkeit eingebüßt hat und die Glätte schon beeinträchtigt ist. Sie haben das Gefühl wie Geigenvirtuosen mit ihren Seiten, die auch sofort spüren, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Es ist zwar auch ein gewohntes Prozedere, aber eben auch eines, das durchaus Sinn macht. Für uns, die wir gewöhnliches Tennis spielen, ist dies kaum auszumachen. Wir spielen mit unseren Kugeln ja mitunter solange, bis ihnen im wahrsten Sinn des Wortes die Luft ausgeht und sparen damit vermutlich wirklich am falschen Ende. Am meisten Bälle werden übrigens nicht in Wimbledon benötigt, sondern bei den US-Open. Das hat vorrangig mit dem Hartplatzbelag in New York zu tun.

Auch die Natur freut sich über Wimbledon, denn es ist natürlich irgendwie schon schön, wenn auch beinahe aus der Zeit gefallen, dass auf einem Rasen gespielt wird, der natürlich mit wissenschaftlicher Genauigkeit gepflegt und gemäht wird. Mit in den Rasen eingeführten Detektoren werden regelmäßig Dichte, Härte und Feuchtigkeit gemessen. Und dann kommt die Nagelschere zum Einsatz. Acht Millimeter genau beträgt die Rasenhöhe, jeden Tag wird das Gras um exakt zwei Millimeter gekürzt.

Wer über gute Aufschläge verfügt – und Jannik Sinner hat sich auch in diesem Bereich extrem verbessert – hat unbestritten Vorteile. Es ist in jedem Fall angerichtet. Das Spiel der Spiele momentan für Südtirol. Es erinnert mich ein wenig an Boris Becker, der als 17-Jähriger Wimbledon gewann. Das war 1985 und löste in Deutschland einen ungeheuren Tennisboom aus. Auch Sinners Auftritte elektrisieren mittlerweile und vielleicht ist es ja ein gutes Omen, dass beiden die Natur die gleiche Haarfarbe mitgegeben hat. Wer weiß, vielleicht sieht Djokovic ja rot nach dem Halbfinale und die Jagdmäuse tanzen Walzer mit Südtiroler Blasmusik.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist und Eurosport-Kommentator widmet sich in seiner Kolumne Sigi's Spitzen der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein. Heinrich hat mit seiner Kollegin Doris Henkel zwei Tennis-Jahrbücher geschrieben und einige Endspiele in Paris als Kommentator gehören immer noch zu seinen persönlichen Highlights.

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