Dauerstörung beim Aufschlag

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Bei den ersten Takten von Và pensiero in der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi raschelt plötzlich ein Butterbrotpapier. Sogar in Verona, dieser wunderbaren Freiluftarena, würde das die Musiker stören, zumal die ersten Töne leise, ja fast kaum hörbar gespielt werden. Erst dann kommt ein veritabler Trommelwirbel, gefolgt vom Chor, der sich trotz seiner vielen Stimmen zunächst auch zurückhält. Jedes Räuspern, jedes noch so kleine Scharren der Füße auf den Steinstufen, wäre jetzt fatal. Die Opernfreunde wissen das natürlich und lauschen ehrfurchtsvoll den Melodien aus der Feder eines der größten Komponisten aller Zeiten.

Apropos Verona. Die Schlussfeier der Olympischen Spiele 2026 Mailand/Cortina wird in diesem wundervoll erhaltenen römischen Amphitheater stattfinden. &bdquo;Flieg Gedanke, auf goldenen Schwingen.“ So beginnt der Gefangenenchor, der in Verona dann meist zweimal hintereinander vorgetragen wird, weil viele Besucher tatsächlich vor allem dieses Liedes wegen die Oper Nabucco kennen. Wir wollen uns jetzt nicht streiten, ob nicht &bdquo;La Traviata“ vielleicht die beste Oper ist, die Verdi je geschrieben hat. Oder &bdquo;Rigoletto“. Auf jeden Fall wird man bei Aufführungen seiner Kunst Respekt wahren. In jeder Minute. Man will das Werk schließlich auch genießen. So mancher Tennisspieler würde sich ein kleines Stück Oper auch momentan wünschen, denn bei den Australien Open in Melbourne gehört das Butterbrotpapier im übertragenen Sinne jetzt zum Alltag. Die Zuschauer genießen bei den Australian Open mehr „Freiheiten“. © APA/afp / WILLIAM WEST

Mittlerweile bewegen sich nämlich nicht nur die Aktiven auf dem Platz ständig, weil sie ja von ihren Gegnern ordentlich beschäftigt werden, sondern auch die Zuschauer sind nun stets aktiv. Sehr zum Leidwesen mancher Spielerinnen und Spieler. Der Veranstalter hat nämlich erstmals gestattet, dass man auch während der Aufschlagwechsel mit dem gerade erworbenen Hamburger in der linken und dem zuckersüßen Getränk in der rechten Hand wieder auf seinen Platz stolpern darf. Früher musste man draußen vor dem Tore warten, bis der Seitenwechsel vollzogen war. Der dauert 90 Sekunden. Das ging gerade so, um auf seinen Platz zu kommen und den ersten Bissen zu starten und am Strohhalm zu saugen. Die 20 Sekunden von einem &bdquo;Game“ zum nächsten sind zu kurz. Definitiv.

Freier Eintritt zu jeder Zeit Man stelle sich folgendes Szenario vor: Ein Spieler -oder natürlich auch eine Spielerin – wirft den Ball zum Aufschlag in die Luft. In der Flugbahn des Balles stolpert gerade ein Fan mit seinem Lunch die Treppe herunter. Es könnte so durchaus sein, dass dies die Konzentration massiv beeinträchtigt. Klagen darüber gibt es bereits ziemlich viele, doch Turnierdirektor Craig Tiley juckt das wenig. &bdquo;In den oberen Rängen ist das schon längst üblich, jetzt eben auch weiter unten“, sagt er lapidar.

Dabei geht es wenig überraschend natürlich nur ums Geschäft. Jede Wurst, jeder Softdrink steigert den Umsatz und den Gewinn. Und dem Tennisfan will man nicht mehr zumuten, dass er möglicherweise einen wichtigen Ballwechsel versäumt, weil er warten muss, bis er wieder auf seinen Platz darf. Jetzt hat auch Melbourne Verhältnisse wie in New York, wo die Lautstärke und der Trubel beinahe schon zur besonderen Atmosphäre gehören. Die US-Open sind mehr ein Rockkonzert mit harten Rhythmen und donnernden Bässen, die Australien-Open waren bislang eher wie ein Konzert mit Helene Fischer. Schon ein bisschen Stimmung aber doch kontrolliert. In Paris wird man ständig zur Ruhe gemahnt. Auf französisch natürlich, denn beim Turnier &bdquo;Roland Garros“ wird ausschließlich in der Landessprache parliert. Wimbledon hingegen ist Oper pur. Weiße Kleidung und gespenstische Ruhe vor jedem Aufschlag. Wehe dem, der stört.

Biathlon zur Vorbereitung Jetzt ist die Szene in heller Aufregung. Es gibt zwei Lager bei den Aktiven. Die einen sagen, gegen New York ist Melbourne ein Kindergeburtstag. Andere fühlen sich extrem gestört. Der Australier Jordan Thompson brachte es auf einen interessanten Nenner. &bdquo;Man stürmt ja auch nicht einfach in ein Büro, wenn gerade eine Besprechung stattfindet.“ Novak Djokovic räumt immerhin ein, dass er die Idee dahinter verstehe, wenngleich er sich dennoch abgelenkt fühle. &bdquo;Ich war bislang eine andere Atmosphäre gewöhnt.“ Letztlich schafft der an, der bezahlt. Und das ist nun mal auch der Zuschauer, der keine Sekunde des Spieles versäumen will und soll. Auch dann nicht, wenn ihn nach Speis und Trank gelüstet. Es wird in Zukunft wohl noch lauter werden auf den Tennisplätzen dieser Welt. Im Biathlon (hier Antholz am Donnerstag) ist das Publikum gewohnt laut. © APA/afp / MARCO BERTORELLO

Zur Vorbereitung empfehle ich einen Besuch bei einer Biathlon-Veranstaltung wie derzeit in Antholz, wo die Aktiven einen schier unvorstellbaren Lärmpegel am Schießstand ausblenden müssen, um konzentriert zu treffen. Die Fans sind hier längst Teil der Inszenierung. In Verona oder in jedem Opernhaus dieser Welt taucht man hingegen noch in eine andere Welt ein. In eine Welt, die noch gewissen Regeln unterliegt, die von Rücksichtnahme und Höflichkeit geprägt sind. Ganz so schlecht ist das auch nicht.

Der Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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