Verführerische Wohlfühloasen

Es ist klar, dass jeder mit sich selber ausmachen muss, ob er nun ein Weihnachtstyp ist oder nicht. Ich bin da zunächst mal mit jeder Kritik einverstanden, was den viel zu frühen Zeitpunkt der Weihnachtsorientierung betrifft. November geht schon mal gar nicht. Eigentlich wäre erst irgendwann Anfang Dezember der geeignete Zeitpunkt, um sich begleitet von gefühlsduseligen Liedern an Lebkuchen, Marzipanstollen und Panettone in den Geschäften vorbeizuschieben. Natürlich mit sehr viel Disziplin, auch wenn sich aus unerfindlichen Gründen der Einkaufswagen trotzdem immer wie durch Geisterhand im Eiltempo füllt. Und immer, wirklich immer, liegt mehr drin, als wir benötigen.

Aber das ist die große Kunst der Verführung, die gerade in dieser Zeit auf ihren Höhepunkt zusteuert. Und ob man will oder nicht: Auch die Planung des Weihnachtsessens nimmt plötzlich und unerwartet mehr Raum im Familienrat ein, als eigentlich vorgesehen. Gans oder Ente, Suppe mit Würstel, Raclette oder Fondue? Und was machen wir mit der zusätzlichen Freizeit, so wir denn darüber tatsächlich bei all dem sogenannten Weihnachtsstress noch verfügen? Wir treiben Sport, ein bisschen wenigstens, auch wenn es uns vermutlich wieder nicht vergönnt sein wird, gleich vor dem Haus oder der Wohnung stilvoll im Schnee spazieren zu gehen. Ein paar Meter müssen drin sein, zumal passiv Sport schauen auch ausfällt.

Zum Glück, denn tatsächlich ruht der Sportbetrieb mehr oder weniger in der besinnlich-christlichen Zeit, was ich als ausgesprochen angenehm empfinde. Nicht, weil ich dadurch auch mehr Zeit bekomme, um die Geschenke mit dem mir eigenen System einzuwickeln. Es ist vielmehr auch ein Zeichen, dass wir uns der Weihnachtsbotschaft doch noch immer ein wenig verbunden fühlen. Frieden vor allem wäre schön, auch wenn das in diesen unruhigen Zeiten ein wohl unerfüllter Wunsch bleiben wird. Wenigstens sind so die Fußballstadien verwaist über die Feiertage und nicht wieder Schauplatz von Gewaltorgien von Fans, die nicht des Fußballs wegen oder zur Unterstützung ihrer Vereine kommen, sondern ausschließlich auf Krawall gebürstet sind.

Unverständliche IOC-Entscheidung Reichen denn die Bilder aus der Ukraine noch immer nicht, das nach wie vor unentwegt von Russland bombardiert wird? Zerstörung wohin das Auge blickt. Unsägliches Leid, das über die Zivilbevölkerung hereinbricht. Granaten statt Weihnachtskugeln. Und das Internationale Olympische Komitee (IOC), das ja immer so gerne von seiner friedenstiftenden Mission spricht, will russischen Athleten im nächsten Jahr die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris genehmigen. Unter Auflagen, die letztlich freilich bis in die letzte Konsequenz nie vollständig überprüft werden können.

Immerhin gibt es noch vernünftige Verbandspräsidenten wie den britischen Lord Sebastian Coe von “World-Athletics“, der für seine Leichtathleten einen Start russischer und weißrussischer Sportler in Frankreich kategorisch ausgeschlossen hat. Man müsste Coe in seine Weihnachtsgebete einschließen, denn es ist auch sehr couragiert von ihm, weil so seine Chancen, eventuell mal die Nachfolge des derzeitigen Präsidenten Thomas Bach anzutreten, massiv sinken, zumal der Fechtolympiasieger einen starken Rückhalt im IOC spürt.

Thomas Bach will russische Sportler bei Olympia zulassen. © AFP / FABRICE COFFRINI

Viele wollen gar, dass er sich entgegen der olympischen Charta noch für eine weitere Amtsperiode zur Verfügung stellt. Unterstützung der Fraktionen, die von Russland beeinflusst werden, sei es durch finanzielle Ausstattung oder durch Ämter, dürfte Bach gewiss sein. Und süßer die Mörser nie klingen. Wir sollten beim Aufstellen des Christbaumes oder beim Verteilen der Geschenke auch an jene denken, die von gewissenlosen Diktatoren um ihr Weihnachtsfest gebracht werden. Die nur überleben wollen und selbst das wird ihnen täglich schwer gemacht. Und dass auch der Sport mit der quasi obersten Institution, dem IOC, sich nicht in aller Konsequenz dagegenstellt, liegt schwerer im Magen als die fette Gans, die mich zurück in meine Kindheit führt.

Erinnerungen an die Kindheit Meine Mutter stand immer früh morgens auf und kümmerte sich mit Hingabe um den Weihnachtsbraten, der später, weil wir ja auch modern sein wollten, leider von einem Fondue abgelöst wurde. Ich habe dennoch immer noch den Geschmack der fetten Sauce und der Kartoffelknödel im Mund. Nachschlag bitte. Und auch an die Winter damals erinnere ich mich gerne. Kälte, Schnee und tatsächlich gefrorene Dorfweiher. Richtig kitschig fast. Ich hatte gebrauchte feste Schuhe bekommen und zwei Eisenkufen, die man an diese Schuhe schrauben konnte. Natürlich war ich damit nicht unbedingt auf dem neuesten Stand und schaute ein wenig neidisch auf die Freunde, die &bdquo;richtige“ Schlittschuhe hatten. Egal. Ein paar Kurven brachte ich zustande. Der Freude tat dies keinen Abbruch. Ich lernte schon damals, dass man sich im Sport nicht immer zwangsläufig an den Höchstleistungen orientieren muss, auch wenn das für mich als Kunstturner später so angedacht war.

Immerhin durfte ich mal die olympische Flamme tragen auf dem Weg 1972 zu den Spielen in München, die als heitere Spiele begannen, ehe es am 5. September durch die palästinensische Terrororganisation &bdquo;Schwarzer September“ zu einem Anschlag auf die israelische Mannschaft kam. Am Ende des Terroraktes starben alle neun israelischen Geiseln, ein Polizist und fünf der acht Attentäter. Das war vor 51 Jahren und angesichts der Bilder, die uns im Moment täglich aus dem Gazastreifen nach der mörderischen Attacke der Hamas gegen Israel erreichen, stellt man fest, dass man auch in diesem Teil der Welt seitdem nichts dazu gelernt hat. Und so wird es auch diesmal wieder ein Weihnachten, das uns wie alle Jahre wieder für einen Wimpernschlag in eine vermeintlich wohlige Atmosphäre entführt und uns andererseits aber auch erneut deutlich macht, dass wir trotz vielfältiger Probleme dennoch nach wie vor auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Es gibt kaum ein größeres Geschenk. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten.

Zum Autor. Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Deutscher Fernsehpreis und Bayerischer Sportpreis), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“, der gesamten Vielfalt des Sports und wildert darüber hinaus auch gerne in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst und nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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