Weihnachten mit Boris Becker

…und dann entschwebte er schon in die Richtung, die ihm von fünf Millionen Argentiniern unten auf den Straßen von Buenos Aires rund um den Obelisken vorgegeben wurde: Hinauf in den göttlichen Himmel der Unsterblichkeit, ganz banal mit einem Hubschrauber, weil der Mannschaftsbus kein Durchkommen mehr fand. Lionel Messi, ein kleiner Kerl mit schlampigem Vollbart, aus dessen Fußgelenken ein Ball schier magische Wirkung entfalten kann. Er ist der Held dieser Tage in einem Land, das eine der höchsten Inflationsraten der Welt aufweist. Jeder zweite Argentinier lebt unterhalb der Armutsgrenze. Und doch waren 40.000 in Katar, unterstützt unter anderem von verschiedenen argentinischen Fußball-Vereinen, die für einen Moment ihre zum Teil brutale Rivalität vergaßen.

Natürlich neidet niemand Messi dessen Reichtum. Götter werden mit anderen Maßstäben gemessen und außerdem hat er den WM-Titel geholt und das Land geeint. Die Journalistin Pola Oloixarac von der Tageszeitung &bdquo;La Nacion“ beschreibt das verbindende Element der &bdquo;Albiceleste“ mit einem schönen Vergleich: Die Nationalmannschaft ist das, was die britische Krone für England ist. Sie vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl und lässt eine Frusttoleranz zu. Doch leider gilt das nur für einen kurzen Augenblick, denn der Sturz in die Realität, in den mehr als nur grauen Alltag, kann jetzt nicht mehr durch tolle Dribblings und verwandelte Elfmeter aufgefangen werden.

Die WM-Parade in Buenos Aires. © APA/afp / LUIS ROBAYO

Jetzt folgt kollektiver Katzenjammer, der das Land wieder spalten wird. Messi und seine erfolgreichen Kollegen wird das nicht tangieren. Fast die gesamte Nationalmannschaft ist bei Vereinen in Europa unter Vertrag. Und da hält sich die Inflationsrate noch in Grenzen und sind Weihnachtsgeschenke noch erschwinglich. Auf jeden Fall für argentinische Fußball-Weltmeister.

Boris ist zuhause Ein so großer Bahnhof wie den Kickern aus Argentinien wurde Boris Becker nicht zuteil, als er – fast geheim – seine Wahlheimat London verlassen durfte, rechtzeitig, um noch ein paar Weihnachtsgeschenke zu ordern. Das dafür notwendige Kleingeld spendierte ihm ein privater deutscher Fernsehsender, bei dem er sich natürlich exklusiv für mehr als eine halbe Million Euro ein paar Tränen aus den Augen wischen durfte beim Anblick seiner Zelle, die zuletzt seine Heimat war. Gelobt hat er die Gemeinschaft in der Gefangenschaft. Das habe er, so erzählte Becker, in der Freiheit so nicht erlebt. Kuchen habe man ihm gebacken und er habe ihn Stück für Stück dann verteilt.

Boris Becker ist wieder auf freiem Fuß. © APA/afp / DANIEL ROLAND

Und sonst? Na ja, es lief halt vieles schief bislang in seinem Leben, das er nun wieder fest in die Hand nehmen wird, gemeinsam mit seiner neuen Lebensgefährtin Lilian de Carvalho Monteiro, die aus einer Politikerfamilie in Sao Tomé und Principe stammt. Ihr Papa scheiterte 2014 als Verteidigungsminister nur knapp bei der Präsidentenwahl. Beckers neues Herzblatt hat gleich eine Firma gegründet, die – Überraschung – Boris Becker vermarktet, weil dieser seine Einnahmen normalerweise nicht behalten dürfte. Auf jeden Fall freuen wir uns, dass wir ihn wieder haben, denn seine Wahlheimat London ist für ihn tabu. Auch sein Wohnzimmer, die Tennisanlage in Wimbledon, von wo aus er einst auszog, als 17-jähriger Leimener die Welt zu erobern, die es dann doch nicht so gut mit ihm gemeint hat. Jetzt beginnt ein neues Kapitel für ihn ohne Rückhand und Beckerrolle. Schon wieder.

Verfolgte Fußballspieler im Iran Noch einmal Katar. Aber diesmal nur geographisch, denn das Land des WM-Veranstalters liegt bekanntermaßen am Persischen Golf, wie auch der Iran, wo die Mullahs, die reaktionären Religionsfanatiker, weiterhin ihre Macht auf brutalste Art und Weise festigen wollen. Freiheit ist nicht geduldet und die Welt, auch die des Sports, schaut noch immer zu. Fassungslosigkeit macht sich breit. Vor zwei Jahren habe ich auf den Tod des Ringers Navid Afkari an dieser Stelle hingewiesen. Tod durch Erhängen, weil er an Protesten gegen das Regime teilnahm, bei dem ein sogenannter Sicherheitsbeamter ums Leben kam.

Jetzt werden erneut viele Sportler und im Moment vor allem Fußballspieler brutalen Repressalien unterworfen bis hin zu Todesdrohungen. Sportler, die ihren Bekanntheitsgrad nutzen, um den Kampf der Menschen im Iran von einem Leben in Freiheit zu unterstützen. Die großen Sportorganisationen hüllen sich in Schweigen. Wieder wollen sie sich nicht einmischen. Wieder verweisen sie auf die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten. Iran, Russland, Afghanistan, Belarus und auch China müssten längst um die Zugehörigkeit zum Weltsport fürchten.

Doch aus Lausanne, dem Sitz des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) etwa, kommen nur wachsweiche Hinweise auf mögliche Menschenrechtsverletzungen. Konsequenzen will niemand fordern. Das ist armselig. Gerade jetzt an Weihnachten brauchen verfolgte Menschen unsere Unterstützung und wir alle, die wir den Sport lieben, ein deutliches Signal, dass kriegstreibende Staaten und Länder, die ihre eigene Bevölkerung knechten und töten, nichts verloren haben in jedwedem sportlichen Wettstreit.

In diesem Sinne, verbunden mit der Hoffnung, dass dann doch mal so mancher Appell gehört wird, wünsche ich allen Lesern von S+ und natürlich vor allem jenen, die meine Kolumne lesen, ein schönes Weihnachtsfest. Ich werde nicht aufhören, gelegentlich wider den Stachel zu löcken. Auch wenn das manchmal lästig sein sollte, denn jede Stimme ist wichtig.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach preisgekrönte Sportjournalist (u.a. Deutscher Fernsehpreis und Bayerischer Sportpreis), Buchautor und TV-Kommentar, widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi`s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert mitunter auch außerhalb seines Metiers. Dabei ist schmunzelndes Augenzwinkern ebenso vertreten wie bierernste Analyse oder auch provozierende Thematik. Heinrich war nach seinem Sportstudium an der TU München zehn Jahre Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und gehört seit mehr als 30 Jahren zum &bdquo;Repertoire“ von Eurosport.

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