Sigi´s Spitzen | Im Muskelshirt vor dem Veneziano

Man(n) lässt ja gerne mal die Muskeln spielen und kleidet sich dann auch entsprechend mit einem Hemd, das keine Ärmel hat. Ein &bdquo;Muskelshirt“ soll den Bizeps umranden, um ihn noch besser zur Geltung zu bringen. Das kann ja proper ausschauen, wenn die Proportionen stimmen. Wenn sich dann freilich die Oberbekleidung über einen respektablen Bauch spannt, hört der Spaß auf. Dann sind die Muskelspiele einfach nur peinlich, unansehnlich und geschmacklos. Ich will nicht im Urlaub in der Bar neben einem derart (un)-bekleideten Nachbarn sitzen. Da vergeht mir der Appetit. Aber die geschilderte Szenerie ist ja im Vergleich zu anderen noch harmlos. Männer, die offensichtlich meinen, sie seien die Herren der Welt, radeln &bdquo;oben ohne“ durch Badeorte. Es ist schlicht und einfach total geschmacklos und ich frage mich manchmal wirklich, wie tief der Anstand sinken kann, wenn man das traute Heim verlässt. Urlaub scheint für viele zu bedeuten, sämtliche oder fast alle guten Manieren vergessen zu dürfen. Die Sau rauslassen. Einmal im Jahr. Dafür zahlt man und fordert anscheinend damit für sich das Recht ein, tun und lassen zu können, was immer einem gerade so in den Sinn kommt. Die Allgemeinheit stört da nur und die Bewohner der Orte sowieso. Aber ich will das nicht und ich habe viele Mitstreiter, die Mauro Armelao gerade heftig applaudieren. Der Bürgermeister von Chioggia hat nämlich ein ganz und gar wunderbares Gesetz verabschiedet. Wer 50m vom Strand entfernt als Mann und natürlich auch als Frau ohne Oberbekleidung angetroffen wird, zahlt Strafe. Die Höhe von 75 Euro entspricht durchaus einem ordentlichen Abendessen. Armelao hat Mut bewiesen mit seinem Erlass, denn seine Stadt, auch &bdquo;Klein-Venedig“ genannt, lebt vom Tourismus und das sehr bewusst. Sie ist auf Holzpfählen errichtet worden und sieht aus wie eine Miniausgabe der großen Lagunenstadt Venedig, zu der es auf dem Seeweg nur 25 Kilometer sind. Neun Brücken überqueren den Veno-Kanal. Chioggia ist ein Juwel mit pittoreskem Charme. Ein Urlaubstraum. &bdquo;Niemand in Chioggia ist bigott, aber wir verlangen Respekt für eine Stadt, die sich dem Tourismus verschrieben hat. Es ist für mich nicht möglich, täglich Männer in Badehosen oder Frauen im Bikini in Supermärkten zu sehen“, sagte der Bürgermeister auf der Internetseite www.chioggianews.it. Er beruft sich dabei auf Artikel 28, der sich &bdquo;auf den öffentlichen Anstand an öffentlichen Orten beruft und bittet, private Körperteile nicht zur Schau zu stellen“. Eine Stadt wehrt sich gegen den allgemein im Urlaub verbreiteten Sittenverfall und versucht, mit vielleicht zunächst als unpopulär angesehenen Reaktionen das Erscheinungsbild auf ein für alle erträgliches Niveau zu heben. Ich war gerade ein paar Tage in Grado etwas östlicher von Venedig gelegen. Dort gibt es noch keinen Erlass in dieser Richtung, was offensichtlich weidlich ausgenutzt wird, weil der Urlauber als solcher seine guten Manieren meist zuhause lässt, sobald die Wege nach Süden führen. Ich habe eine Reisegruppe erlebt, die mit dem Fahrrad direkt vor die Basilika Sant&bdquo;Eufemia gefahren ist, obwohl schon auf dem Vorplatz Radfahren verboten ist. Das Schild dafür wurde wohlweislich übersehen. Mit verschwitzter Kleidung und manche gar ohne Oberbekleidung, gingen sie dann in das Gotteshaus. Zuhause würde das keiner aus der Gruppe tun. Es ist im gewohnten Lebenskreis selbstverständlich, dass man sich dafür ein sauberes T-Shirt anzieht. Oder sitzt man zwischen Garmisch-Partenkirchen und Sylt etwa auch oberkörperfrei vor seinem Mittagstisch? Die Tourismusorte wehren sich. Und weil es mit wohlgemeinten Appellen eben nicht getan ist, greifen immer mehr verständlicherweise zu klaren Gesetzen. In Eboli, in der Nähe der wunderbaren Strände von Salerno, ist Küssen im Auto verboten. Und, wie es in der Verordnung heißt, &bdquo;der Austausch von Zärtlichkeiten“. Da kann ein Schmatz für den Schatz schon mal bis zu 600 Euro kosten. Dafür bekommt man fast schon einen schönen Ehering. Am für deutsche Touristen so beliebten Gardasee darf man am Strand nicht mehr mit Bällen spielen und wer Badegäste, beabsichtigt oder nicht, mit Wasser bespritzt, kann ebenfalls ein Knöllchen bekommen. Verpackt in einer Plastiktüte, damit der Überweisungsträger nicht nass wird. Bei Alkohol greift man in vielen Ländern noch viel rigoroser durch. In Spanien ist der Genuss von Hochprozentigem in der Öffentlichkeit ebenso wie in der Türkei strikt untersagt. Es ist im Grunde schon traurig, dass Selbstverständlichkeiten des Lebens im Urlaub an der Garderobe abgegeben werden. Die guten Manieren werden über Bord geworfen, was auch für alle, die zivilisiert die Ferien genießen wollen, Auswirkungen hat. Gesetze werden immer dann verabschiedet, wenn der Bogen überspannt wird. Meist ist das freilich eine Minderheit, die es schick findet, vor allem im Urlaub gegen den Strich zu bürsten. Zum Glück sind die paar neuen Verordnungen jetzt nicht so dramatisch, dass sie einem gleich die Urlaubsfreude vergällen würden. Ein schönes T-Shirt kann ja wohl jeder in den Koffer stopfen und der Hinweis, dass man nicht im Auto küssen darf, kann ja auch so verstanden werden, dass es viel schönere Örtlichkeiten gibt, um Begehrlichkeiten zu wecken. Das Urlaubszimmer etwa, mit Blick auf das Meer und einer leichten Brise, die durch das geöffnete Fenster mit den weißen Gardinen spielt. Und keine Anstandspolizei weit und breit. Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Deutscher Fernsehpreis, Bayerischer Sportpreis, World-Sports-Trophy, Biathlon-Award), Buchautor und Eurosport-Kommentator, widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi`s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern oder ernst und sachlich und mitunter auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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