Sigi´s Spitzen: Ein Dorf stirbt aus

Es gibt eine Episode von Fritz Fischer, der deutschen Biathlon-Legende, die noch immer zum Schmunzeln einlädt, was freilich nicht überrascht, denn der Fritz, der jahrelang an meiner Seite als Co-Kommentator saß, ist bekannt für seinen trockenen Humor, seinen Mutterwitz. Ihm sitzt der Schalk im Nacken. Fischer hat den gesamten Olympischen Medaillensatz gewonnen. Bronze in Sarajevo 1984, Silber in Calgary vier Jahre später und Gold endlich in Albertville 1992. Ein Sieg mit der deutschen Staffel, der unvergessen ist, weil er schon damals am Schießstand so schnell war wie heute die Besten. Und er blieb dazu noch fehlerfrei. Das nur als kleine Einführung. Er war ja ein Spätberufener und schon 28 Jahre alt, als er im damaligen Jugoslawien zum ersten Mal im Zeichen der olympischen Ringe an den Start ging. Nicht nur der dritte Platz ist in Erinnerung geblieben. Gerne erzählt er, wie er in Sarajevo in einem Taxi hinten im Kofferraum die Sicherheitssperren überwand, um die alpinen Mädels im olympischen Dorf zu besuchen. Er hatte den Besuch versprochen.

Es war und ist ihm freilich nicht zu entlocken, wen genau er damals getroffen hat. Soviel Zurückhaltung muss schon sein und wird natürlich auch akzeptiert. Bei nachfolgenden Spielen war es dann einfacher. Das Olympische Dorf wurde die große Begegnungsstätte. Sogar Kondome gehörten nun ganz offiziell zur Grundausstattung und wurden gar von den Ausrichtern an die Aktiven wohl beiderlei Geschlechts verteilt. Begegnungen erwünscht. Damit ist jetzt bald Schluss, denn der große und so gerne zitierte tolle Treffpunkt der Jugend der Welt, die Cafeteria im Olympischen Dorf, ist ein Auslaufmodell. In Paris gibt es noch einmal eine gemeinsame Unterkunft für etwa 10.000 Sportler und Sportlerinnen und auch ein Restaurant für alle. Doch nach den Wettkämpfen am Fuße des Eiffelturms geht die Geschichte mit dem Olympischen Dorf, das sogar einen eigenen Bürgermeister hat, langsam zu Ende.

Hotels haben Vorrang Es ist eine fast folgerichtige Entwicklung, denn längst betrachten die möglichen Medaillenkandidaten, die Spitzenkräfte des Sports also, die Spiele nicht mehr als auch gesellschaftlichen Höhepunkt. Sie wollen nicht andere Athleten anderer Sportarten treffen. Sie wollen gewinnen. Anreise, Wettkampf, Abreise. Es ist schon schwer, Fahnenträger für die Eröffnungsfeier zu finden und noch schwieriger ist es, Teilnehmer für die Abschlussfeier aufzutreiben. Nach dem Wettkampf wollen alle meist sofort nach Hause. Und wer in der zweiten Woche erst zum Einsatz kommt, reist auch entsprechend seinem Zeitplan an. Es sind in erster Linie jene Sportler und Sportlerinnen, die nicht so sehr ergebnisorientiert sein können, die Olympische Spiele auch der Besonderheit und ihrer Geschichte wegen betrachten und die stolz ihre Nationenflaggen am Balkon ihrer vorübergehenden Wohnung anbringen. Die großen Stars residieren längst in den besten Hotels.

Alles wird optimiert, nichts soll dem Zufall überlassen werden. So haben sich etwa jetzt die deutschen Reiter aus dem Olympischen Dorf verabschiedet. Der Weg von der Unterkunft für alle hinaus nach Versailles, wo die Reitwettkämpfe stattfinden, sei zu weit, teilte das Deutsche Olympische Komitee für Reiterei (DOKR) mit. Vermutlich möchte man es allerdings auch etwas exklusiver und nobler haben, weshalb die neue Frankreich-Zentrale einer großen Einkaufskette (LIDL) als Quartier gewählt wurde. Von Chatenay-Malabry, südöstlich von Paris gelegen, sind es 40 Minuten Fahrzeit. Vom Olympischen Dorf in St. Denis müsste man wohl eineinhalb Stunden einkalkulieren. Mindestens. Wer es sich leisten kann, lebt auch während der Spiele individuell. Marmor statt Laminat. In eineinhalb Jahren, also fast schon morgen, gibt es wohl gar kein olympisches Dorf mehr.

Um die Kunstrodelbahn in Cortina d'Ampezzo gab es eine heftige Debatte. © Foto Hermann Sobe / Hermann Sobe Medienservice HS

Wo sollte es auch stehen für die Winterspiele 2026? Die alpinen Damen wedeln in Cortina d´Ampezzo, die Herren bestreiten ihre Rennen im 306 Kilometer entfernten Bormio. Fahrzeit bei gutem Wetter, was im Winter nicht immer selbstverständlich ist, etwa fünfeinhalb Stunden. Eher sechs, zumal man ja auch immer an den Mautstationen warten muss, denn es ist kaum zu erwarten, dass Olympiateilnehmer freie Fahrt genießen. In Turin 2006 habe ich jedenfalls immer ordentlich gelöhnt auf der Fahrt von San Sicario nach den Biathlonwettkämpfen zum Eiskunstlaufen nach Turin. Noch ein Beispiel gefällig? Bitte. Von Mailand, dem Hauptort der Spiele, zu den Biathlon-Wettkämpfen in Antholz sollte man im Auto auch ein kleines Verpflegungspaket mit sich führen. Es sind 368 Kilometer. Fahrzeit zwischen viereinhalb bis fünf Stunden. Eine Reise mit dem Zug wäre zwar schön, gestaltet sich aber vermutlich extrem schwierig und langwierig mit mehreren Umstiegen und möglichen Verspätungen, die nicht auszuschließen sind. Raststätten an den Autobahnen werden also die neuen olympischen Dörfer.

Im Winter auf die Schiene Und das ist erst der Anfang. Noch extremer könnte es werden, wenn der Plan von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron aufgeht, der in ein paar Jahren auch noch Winterspiele haben will. Er stellt sich eine &bdquo;Olympische Straße“ vor. Von Nizza nach Albertville. Das sind schlappe 465 Kilometer. Das alles soll mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV abgedeckt werden mit diversen Stopps. Nach den Raststätten in Italien sind dann die Bahnhöfe in Frankreich dran als Ersatz für ein Olympisches Dorf. Aber wie es im Sport nun mal üblich ist, kommt auch hier dem Training eine große Bedeutung zu. Übung macht den olympischen Reisemeister. Die Segelwettbewerbe von Paris in diesem Jahr finden in Marseille statt. Der TGV, der immerhin 22mal am Tag an das Mittelmeer fährt, benötigt für die 660 Kilometer vier Stunden und zwei Minuten (französische Züge sind sehr pünktlich). Aber das ist noch immer nicht die Spitze des olympischen Reisewahnsinns. Surfen findet im Rahmen der Olympischen Spiele 2024 auf Tahiti statt. Entfernung schlappe 15.700 Kilometer. Und es gibt keinen TGV in den Südpazifik.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierend. Dabei immer mit persönlicher Note. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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