Kolumne | Warten auf John McEnroe

Wieder einer weg. Einer von denen, die sich über die anderen erheben konnten, weil sie oft besser waren. Nicht nur einmal, sondern über viele Jahre hinweg sehr oft. Raphael Nadal. Warum werden wir gerade ihn schmerzlich vermissen?

Das war zum einen seine Gestik vor jedem die uns beim Zuschauen schier wahnsinnig machte. Er zupfte hier und zupfte da. Er strich sich mit der Hand hinter beide Ohren, an der Nase und zog dann noch das T-Shirt an der Schulter straff. Mehrmals. Zuvor stellte er seine zwei Trinkflaschen akkurat parallel in einem Abstand von vermutlich genau einen Zentimeter nebeneinander. Dieses Prozedere gehörte unnachahmlich zu ihm und er hat das ja nicht bewusst so gestaltet. Es hat sich im Lauf der Jahre ergeben und es war längst auch für ihn ein nicht mehr zu kontrollierender Automatismus. Rafael Nadal hat sich von der großen Tennis-Bühne verabschiedet. © APA/afp / JORGE GUERRERO

Wir kennen das. Wenn wir unsere eigenen Routinen mal genauer unter die Lupe nehmen würden, käme deutlich zum Vorschein, dass auch wir gewissen Verhaltensweisen unterliegen. Nadals Vorspiel wird uns jetzt fehlen und viel mehr noch sein unfassbarer Kampfgeist, sein kraftvolles Spiel, seine Gewinnermentalität. Es ist nicht leicht, so ein Verzicht. Aber wir sind das natürlich gewohnt, auch wenn es immer schmerzt, wenn ein Gigant aufhört. Wie Roger Federer. Mit ihm haben wir uns von der einhändigen Rückhand verabschieden müssen. Von einem Kunstschlag, den jetzt keiner mehr spielt.

Der Schweizer, der auftrat wie ein Gentlemen, war wohl der letzte aus einer ganz besonderen Generation. Einer, der es schaffte, aus einem Tennisstadion eine große Bühne zu machen. Einen Konzertsaal des Sports. Er spielte wie Pavarotti sang. Mit Inbrunst, mal laut, mal schmeichelnd leise. Und jeder Schlag Federers war, als würden die Saiten seines Schlägers den Ball streicheln wie der Bogen von Paganini die seiner Geigen. Mal zart und verführerisch oder kreischend intensiv. Je nach Bedarf.

Noch bleiben Lücken Noch haben die neuen, jungen Wilden verständlicherweise die Lücken nicht schließen können. Aber das ist normal, es ist der Lauf der Welt und Nadal oder Federer waren eben auch einmalig. Aber auch im Sport lassen sich Veränderungen nicht vermeiden. Das Leben gibt die Richtung vor, der Alterungsprozess sorgt gerade dort, wo Körper und Geist ständig Höchstleistungen bringen sollen, für klare Signale, wann der neue Lebensabschnitt eingeleitet werden muss. Deutlich zu erkennen ist freilich auch, dass sich die Grenzen nach hinten verschoben haben.

Der Österreicher Simon Eder wird mit über 40 Jahren noch weiter ganz normal Biathlon-Rennen bestreiten. Vermutlich bis zu den Olympischen Spielen in Mailand, wo die Wettkämpfe seiner Sportart ja in Antholz ausgetragen werden. Und Eder ist immer noch konkurrenzfähig. Ja mehr. Er ist noch immer der beste seines Landes. Aber Eder hat auch nie aufgehört wie etwa Marcel Hirscher oder gar Lindsay Vonn, die sechs Jahre nach ihrem Rücktritt jetzt mit 40 Jahren wieder Mitglied des US-Ski-Teams geworden ist. Lindsey Vonn arbeitet an ihrem Ski-Comeback. © APA/afp / BEN STANSALL

Ihr Comeback wird mit vielen Kommentaren begleitet und ist, sollte es tatsächlich dazu kommen, ein Aufreger der besonderen Art. Sie wird alle Aufmerksamkeit auf sich lenken, selbst wenn sie nur hinterherfahren würde. Natürlich ist und wäre das ungerecht gegenüber allen und wirklich allen anderen. Aber andererseits entspricht genau ein solcher Rücktritt vom Rücktritt dem Zeitgeist. Sensationen sorgen für Schlagzeilen, für Klicks, für Einschaltquoten. Und so nebenbei entsteht eine wunderbare Plattform für viele ehemalige Sportler, die sich längst im sportlichen Ruhestand befinden. Ihre Meinungen garnieren die Meldungen über ihre ehemaligen Kolleginnen und Kollegen. Und neben Unverständnis erkenne ich auch ein bisschen Neid. Vielleicht, mag so mancher Gedanke sein, habe ich doch zu früh aufgehört.

Weltmeisterin mit 40 Jahren Es gibt da ja noch ein herausragendes Beispiel, das indes nicht so bekannt geworden ist, weil die Sportart nicht die Popularität genießt wie etwa der alpine Skilauf. Die Eiskunstläuferin Deanna Stellato-Dudek gewann vor 24 Jahren (2000) die Silbermedaille bei den Juniorenweltmeisterschaften. Als Einzelläuferin wohlgemerkt. Danach verletzte sie sich. Die Karriere war nur kurz und fand dennoch eine Fortsetzung. 16 Jahre später trat sie als Paarläuferin noch einmal in Erscheinung und im letzten Jahr wurde sie mit dem zehn Jahre jüngeren Sportpartner Maxime Deschamps Weltmeisterin. Mit 40 Jahren. In dieser Saison gewann sie zwei Grand-Prix-Wettbewerbe. Sie wird als 42-jährige noch in Mailand bei den Olympischen Spielen antreten, wenn nicht noch die eine oder andere dem Alter und dem Leistungssport geschuldete Einschränkung auftritt, wonach es derzeit nicht aussieht. Aber die gebürtige US-Amerikanerin, die für Kanada startet, ist gewiss einzigartig.

Andererseits trifft das auf Hirscher oder Vonn auch zu. Ich warte derweil sehnsüchtig und natürlich vergeblich auf das Comeback von meinen Lieblingsspieler aller Zeiten, John McEnroe. Keiner spielte wie er mit so aufreizender Lässigkeit die Volleys. Beinahe ohne sichtlichen Aufwand. Wie ein Tänzer bewegte er sich auf dem Platz. Er war genial. In jeder Hinsicht. Ich gebe zu, wir neigen gerne dazu, nur das Gute zu sehen in der Vergangenheit. Verdrängung gehört zu den leider unangenehmen Wesenszügen der Menschen. Aber wenn ab und zu der Zauber von früher noch mal lebendig wird, streichelt das ja auch unsere Seele. Es ist und bleibt ja letztlich doch die große Ausnahme.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, lässt in seiner wöchentlichen Kolumne seinen Gedanken freien Lauf. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Der jetzt wohl endgültige Rücktritt von Raphael Nadal löste bei unserem Kolumnisten Sigi Heinrich eine Reise in die Vergangenheit aus. Und jetzt will auch noch die Skiläuferin Lindsay Vonn der Zeit ein Schnippchen schlagen. Schlagzeilen sind ihr gewiss.

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