Kolumne | Die Angst vor dem Weißen Hai

Natürlich werden wir nicht gefragt. Wir, die Konsumenten oder auch mal die Wähler, die Zuschauer, die Fans. Es wird einfach alles über unseren Kopf hinweg entschieden und wir also, wir sollen dabei das Gefühl haben, dass, sie, die Institutionen in jedweder Form ob Vereine, Verbände oder Parteien, dass sie es ja nur gut mit uns meinen. Sie wollen, so das Credo, nur das Beste für uns.

Die politischen Vertreter versuchen uns vor allem vor Wahlen mit plumpen Täuschungsmanövern zu ködern, wo wir doch wissen, dass die meisten ihrer Worte vielfach nur Schall und Rauch sind. Allerdings sind wir schwach und erliegen regelmäßig den wilden Versprechungen und Verlockungen. Das wird gnadenlos ausgenutzt. Am weitesten kommt man, so der aktuelle Erfahrungswert der beiden Landtagswahlen in Deutschland, wenn man keine Ideen und Vorschläge macht. Dann bekommt man viele Stimmen. Man muss nur laut sein und gegen die amtierende Regierung wettern. Das genügt und das ist eine der traurigsten Erkenntnisse der letzten Wochen und das eigentliche Alarmsignal für unsere Gesellschaft.

Aber bald werden wir ja wieder abgelenkt werden, denn auch dafür wird gesorgt. Dabei meine ich jetzt nicht die Flugschau mit abgeschobenen strafrechtlich verurteilten Asylanten, die fein in Szene gesetzt wurde pünktlich gerade noch vor den Wahlen (genutzt hat es wenig), sondern der neue Sportkalender, der uns in ein wahnsinniges Dilemma zwingt.

Um alles verfolgen zu können, was wir gerne sehen wollen, müssen wir viele TV-Stationen ansteuern. Natürlich gegen eine entsprechende Gebühr. Gleichzeitig müssten wir aber unsere Arbeit reduzieren, sonst nämlich würden wir das eine oder andere Event versäumen. Weniger Arbeit, weniger Geld, mehr Ausgaben. Es wird ein Teufelskreis, denn ich vergaß: Die großen Verbände vor allem wollen ja nur das Beste. Nicht für uns, sondern von uns: Unser Geld. Wer glaubt, dass die Champions-League im Fußball mit nunmehr 204 Spielen in einer Saison nur deshalb vergrößert wurde, damit wir alle noch mehr Spaß haben, irrt gewaltig. Sportveranstaltungen sollen künftig Gelddruckmaschinen kräftig Konkurrenz machen. Der Fußball ist dabei die treibende Kraft.

Die Champions League spielt in einem völlig neuen Format. © ANSA / SEBASTIEN NOGIER

Andere ziehen nach mit immer weiteren Formaten. Die Leichtathletik etwa will jetzt auch jedes Jahr Weltmeisterschaften durchführen. In geraden Jahren, also erstmals 2026, soll dann ein dreitägiges Finalspektakel in Budapest durchgeführt werden, bei dem nur die Besten der Besten antreten sollen. Olympiasieger, Weltmeister, Diamond-League-Sieger, Weltrekordler. Es soll keine Qualifikationen mehr geben und Nulltoleranz beim Start bis 400 Meter. Ein Augenaufschlag ist dann ein Fehlstart.

Ein ganz spezielles Wasserhindernis Der Hindernislauf führt nur noch über 1500 statt 3000 Meter. Höheres Tempo, mehr Spektakel. Vielleicht setzt man im Wassergraben noch ein paar Piranhas ein. Das Brett wird derweil symbolisch an die Wand genagelt. Beim Weitsprung soll es künftig nämlich eine Absprungzone von 40 Zentimeter geben. Der Balken ist nur noch Orientierung. Und beim Stabhochsprung soll die wirkliche Höhe gemessen werden und nicht die Höhe der Latte beim jeweiligen Versuch. Es soll sowieso nur sechs Möglichkeiten geben. Und beim Speerwurf zählt nur der beste Wurf. Die jeweils kürzeren Durchgänge werden gar nicht erst gemessen. Und dann soll es in die USA noch einen reinen Frauenwettkampf geben und auch noch eine neue Wettkampfserie, die sich gegen die Diamond-League positioniert. Und so weiter und so weiter. Die dazwischen liegenden Europameisterschaften etwa oder gar nationalen Titelkämpfe werden degradiert.

Wohin das alles führt, sahen wir erst kürzlich, als der schwedische Stabhochspringer Armand Duplantis in Zürich gegen den norwegischen 400mHürden-Weltrekordler Karsten Warholm antrat. Über 100 Meter. In wirklich bärenstarken 10,37 Sekunden gewann &bdquo;Mondo“, der mit 6,26 Metern den Stabhochsprungweltrekord hält. Es war Spaß, gut. Warholm muss dafür im Finale der Diamond-League in Brüssel in einem schwedischen Trikot antreten. Aber es zeigt auch, dass mit allen nur erdenklichen Mitteln versucht wird, die klassischen Sportarten mit neuen Formaten in eine neue Zeit zu führen.

Michael Phelps schwamm 2017 gegen einen Weißen Hai. Ben Johnson lief gegen ein Pferd. Das ist dann natürlich längst kein Sport mehr. Das ist Zirkus, in des Wortes wahrer Bedeutung. Hereinspaziert. Die Monstershow beginnt. Man muss höllisch aufpassen, dass man aus den sportlichen Wettkämpfen kein Kasperltheater macht, das niemand mehr wirklich ernst nimmt. Und ich habe mal so am Rande gehört, dass, wer gut sein will, auch noch trainieren muss. Thomas Michelmann, Präsident des Deutschen Handball-Bundes (DHB) meinte in der Fachzeitschrift &bdquo;Handballwoche“, dass die Gefahr besteht, dass sich der Sport selbst auffrisst.

Längst warnen auch Sportmediziner von den Auswüchsen der Terminkalender, weil keine Zeit mehr bleibt, um sich zu erholen. Es kommt nicht von ungefähr, dass bei den US-Open die beiden Olympiafinalisten Novak Djokovic und Carlos Alcatraz schon früh ausgeschieden sind. Beide waren müde, auch mental. Am Ende war es vielleicht auch clever von Jannik Sinner, in Paris nicht anzutreten. Er wirkt frisch und steht jetzt jedenfalls mal im Halbfinale in New York. Es wird künftig immer wichtiger für die Aktiven, sich die Einsatzpläne genau anzuschauen. Und gegebenenfalls auch mal nein zu sagen. Das gilt natürlich auch für uns.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi`s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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