Kolumne | Der Preis der Verführung

Es hat etwas gedauert, ehe der Hilferuf in einem Beitrag mündete, der dann im TV-Morgenmagazin (immerhin) in Deutschland gesendet wurde. Ehemalige deutsche Turnerinnen haben sich zuletzt beinahe wöchentlich über Missstände im Training beklagt. Zuletzt äußerte sich die Olympiateilnehmerin und WM-Bronzemedaillengewinnerin am Schwebebalken 2021, Tabea Alt. Und es ist dramatisch. Da ist von Essstörungen die Folge und dass Demütigungen an der Tagesordnung seien.

Bei einem weiteren Satz glaubt man zunächst, sich verlesen zu haben. Sie habe, so Alt, mit Knochenbrüchen turnen müssen. Im sozialen Netzwerk &bdquo;Instagram“ beschuldigte die ehemalige Spitzenturnerin die Verbände des &bdquo;systematischen und körperlichen Missbrauchs.“ Zunächst denkt man an einen Einzelfall. Aber nein. Das wahrlich Erschreckende ist die Tatsache, dass dies augenscheinlich Alltag zu sein schien. Auch die mehrfache deutsche Meisterin Kim Bui oder Emma Malewski, Europameisterin vor zwei Jahren am Schwebebalken, bestärken ihre ehemalige Kollegin. &bdquo;Schlimm genug, dass man damit an die Öffentlichkeit gehen muss, damit man gehört wird“; meinte Malewski.

Emma Malewski äußerte sich kritisch. © Soziale Medien

Die Turnerinnen können ja nicht einfach die 112 wählen, den Notruf. Aber sie haben die Probleme schon vor Jahren angesprochen. Passiert ist: Nichts. Erst jetzt, nachdem die Meldungen das Licht der Welt erblickten, wurden zwei Trainer in Stuttgart freigestellt. Der Deutsche Turner-Bund (DTB) und der Schwäbische Turnerbund (STB) haben &bdquo;bis zur weiteren Klärung der Sachlage und zum Schutze aller kurzfristige Trainingsmaßnahmen am Stuttgarter Kunstturnzentrum initiiert.“

Der Druck kommt von oben Ich habe das Thema deshalb so ausführlich zu Beginn der heutigen Kolumne ausgebreitet, weil die Anschuldigungen der Turnerinnen in Deutschland nur die Spitze des Eisberges sind. Und dabei geht es nicht nur Turnen. Es ist der Leistungssport an sich, der letztlich immer wieder auch in Frage gestellt werden kann und auch sollte. Es ist die Grundfrage, mit der sich jeder Trainer, Funktionär aber auch der Aktive selbst auseinandersetzen muss. Wie weit will, wie weit kann ich gehen, um meine Ziele zu erreichen?

Ich will zunächst auf die Trainer eingehen: Sie stehen unter permanentem Zugzwang. Sie müssen, um ihren Job zu behalten oder in der Gehaltsstufe steigen, mit ihren Schützlingen (man beachte dieses Wort Schützlinge) Ergebnisse erzielen. In vielen Sportarten sind diese Übungsleiter unterbezahlt, wenn sie nicht gerade Fußballer trainieren. Und sie leisten praktisch ständig Überstunden. Sie geben den Druck, den sie erhalten von ihren Arbeitgebern, den Verbänden und Vereinen und auch der öffentlichen Meinung, schlicht einfach nur weiter. Ein weithin bekanntes Phänomen.

Gegendruck gibt es kaum, denn die Athleten wollen augenscheinlich ja an die Spitze. Sie lassen sich auch deshalb leicht steuern, vornehmlich in jugendlichem Alter, in dem sich Kritik an die Trainer schlicht nicht stellt. Man ist ja froh um jede Hilfestellung, um im Turnerjargon zu bleiben. Als Heranwachsender wird man mitunter, wenn ein gewisses Talent erkannt wurde in der einen oder anderen Sportart, in die Mühle des Leistungssports gespült. Fragen gibt es nicht. Chancen dafür jede Menge. Denkt man.

Deutschlands Turnerinnen sind einem hohen Druck ausgesetzt. © deutscherturnerbund/Soziale Medien

Und noch ein paar Riesenfelgen am Reck, auch wenn die Hände schon rissig sind. Man schneidet die kaputten Hautfetzen dann einfach weg, schmiert Hirschtalg drüber, dann wickelt man Bandagen um die Problemstellen und darauf die Reckriemchen. Und noch ein Runde. Ich habe das selbst viele Jahre mitgemacht. Es ist halt so. Man kennt es nicht anders. Gelobt ist, was hart macht. Dieser überdrüber saublöde Spruch gehört zum festen Repertoire.

Einfühlungsvermögen der Ausbilder: Fehlanzeige, wobei ich glücklicherweise auch Ausnahmen kennenlernen durfte, wie den jüngst verstorbenen deutschen Bundestrainer im Turnen, Franz Heinlein. Drill war und ist immer noch eines der Hauptwerkzeuge im Trainingsalltag. Automatismen für Übungsfolgen erzeugt man nur mit Wiederholungen, egal in welcher Sportart. Und wer verletzt dennoch startet und seine Gesundheit total riskiert, wird später sogar zum Helden. Beispiele dafür gibt es genug. Dabei ist genau dies das falsche Signal.

Fehlende Gesprächskultur Wir glauben immer noch, dass die Zeiten, in denen Maloche vor Freude am Sport stand, vorbei sind. Dabei stehen Psychologen auch heute immer noch eher am Mattenrand oder im Zielraum und werden erst dann zu Rate gezogen, wenn Probleme offensichtlich geworden sind. Dann ist es oft zu spät. Noch immer hat sich eine offene Gesprächskultur und der Austausch zwischen Coach und Spieler oder Athlet nicht so durchgesetzt, wie es notwendig wäre.

Das liegt – und ich weiß, dass ich mir jetzt viele kritische Stimmen einhandle- auch an den Sportlern und Sportlerinnen, die schwer zu bremsen sind. Aber auch sie befinden sich in einer permanenten Drucksituation. Aus eigenem persönlichem Antrieb oder auch schon aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Dazu kommt die Tatsache, dass ihr Zeitrahmen eng ist, um Erfolg zu haben.

Das entschuldigt in der Gesamtheit indes nicht die Verfehlungen, die passieren. Überall auf der Welt und sportartübergreifend. Die jetzt öffentlich gemachten Anschuldigungen der deutschen Turnerinnen sehe ich stellvertretend für viele. Für vermutlich viel mehr als wir wissen oder gar annehmen. Wir sehen ja meist nur den Jubel und die Freude. Selten das Leid und die Anstrengung dahinter. Der Sport verführt uns, doch die Verführer zahlen mitunter einen hohen Preis.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Kolumne | Der Preis der Verführung

Berichte von Verfehlungen im Training deutscher Turnerinnen schlagen derzeit hohe Wellen. Unser Kolumnist Sigi Heinrich ist schockiert über diese Meldungen, die vermutlich sportartübergreifend auch nur die Spitze des Eisberges sind.

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