Das Jahr der Überflieger

Kaum hat das Jahr begonnen, wälzen wir uns schon wieder in Superlativen. Gerade der Sport scheint sich geradezu anzubieten, um unsere Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen, ja beinahe Außerirdischen, zu stillen.

Gemeinsam können wir unserer auferlegten Normalität, die uns doch ziemlich an der kurzen Leine hält, endlich wieder entfliehen. Der Mensch, das sehen wir bei der Vierschanzen-Tournee, kann mehr, als man gemeinhin glaubt. Wir, die wir höchstens mal auf eisigem Untergrund und nassem Schnee auf den Allerwertesten fliegen, verfolgen gebannt Männer und jetzt auch Frauen, wie sie scheinbar der Schwerkraft, die uns freilich auch vernünftigerweise am Boden hält, vehement trotzen.

Wir springen mit. Wir fliegen mit, majestätisch wie die Adler. Zweieinhalb bis dreieinhalb Sekunden (je nach Größe der Schanze) verfolgen wir vom Absprung bis zur Landung die Vogelmenschen in ihren viel zu großen Anzügen, die sich freilich während der Luftfahrt schmeichelnd eng an den Körpern anpassen wie eine zweite Haut.

Die Vierschanzentournee ist in vollem Gange. © ANSA / ANNA SZILAGYI

Wer einmal dort oben an einer Schanze in die Tiefe schauen konnte, ahnt den Mut, den man aufbringen muss, um sich für einen Moment des Lebens über alle anderen zu erheben. Es ist zirzensisch. Unglaublich eigentlich, weshalb wir nur staunen und alle Jahre wieder fasziniert sind von diesem Schauspiel, von den wenigen Augenblicken, in denen der Mensch doch tatsächlich in seiner Hybris versucht, es den Vögeln gleich zu tun. Für die Dauer eines Flügelschlages zumindest gelingt es und wenn es dann auch noch besonders elegant aussieht, die Weite stimmt und die Kampfrichter gnädig sind, gibt es Höchstnoten und alle sind dann frohgestimmt. Wir, also Sie und ich und alle anderen, haben wieder ÜBERFLIEGER. Endlich.

Überfliegen leicht gemacht Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich sportlich und werbewirksam sogleich ein Beispiel daran genommen und ist auch zu einem Überflieger geworden, was ihm sonst ja eher selten gelingt. Allerdings schwirrte er mit Hilfe eines Hubschraubers über Niedersachsen hinweg, vermutlich mit einer Straßenkarte in der Hand, damit er sich noch orientieren konnte, denn sämtliche Asphaltbänder sind dort von Wasser bedeckt. Ein ganzes Bundesland kämpft zum Jahreswechsel gegen ein in diesem Ausmaß noch nie dagewesenes Hochwasser. Vermutlich hat er wie alle seine Vorgänger oder Kollegen bei ähnlichen Katastrophen von unbürokratischer Hilfe gesprochen. Wie diese aussehen kann, sieht man im Ahrtal, wo zwei Jahre nach den Überschwemmungen die Hilfe immer noch so zähflüssig daherkommt wie seinerzeit die braune Brühe. Das freilich ist kein deutsches Phänomen, sondern internationale Leseart.

Egal bei welcher Katastrophe und wo auch immer in dieser Welt: Die Politik verspricht und versteckt sich dann wieder hinter dem Tagesgeschäft, während die Feuchtigkeit noch jahrelang in den Kellerwänden Modergeruch verströmt, wenn denn überhaupt die Häuser noch bewohnbar sind nach reißenden Fluten oder verheerenden Erdbeben. Die Bilder von Amatrice sind uns noch in bester Erinnerung. Der Wiederaufbau seit 2016, als 300 Menschen ihr Leben verloren und Ortschaften nur noch Trümmerhaufen waren, ist noch längst nicht abgeschlossen. SOFORTHILFE. Ja, dieses Wort sollte man in großen Buchstaben schreiben können. Mutige Politiker, die sich über alle Parteigrenzen einfach hinwegsetzen und sich vorrangig um die Menschen kümmern, die aus ihrem Lebensalltag gerissen wurden, wären gewünscht. Überflieger halt. Doch die gibt es in der Politik noch weniger als im Sport.

Jannik Sinner und Olympische Spiele Viele werden in diesem Jahr versuchen, es den Ausnahmekönnern gleich zu tun, wobei nicht alle gleich in die Luft gehen müssen. Überflieger können alle werden, die in ihren Bereichen Überdurchschnittliches leisten. Der Sport freilich bietet dazu auch im kommenden Jahr diesbezüglich wieder viele Möglichkeiten bei vielen Meisterschaften. Die Fußballfans werden vor allem nach Deutschland zur Europameisterschaft schauen. Nicht etwa, weil die dortigen Kicker so genial den ÜBERSTEIGER beherrschen. Es ist ja eher das Gegenteil der Fall. Die letzten Versuche endeten, bildlich gesehen, mit einem Knoten im Knie.

Und dann gibt es natürlich die Olympischen Spiele 2024 in Paris, die wohl am meisten Aufmerksamkeit bekommen werden, zumal bei der dritten Auflage in der französischen Hauptstadt (nach 1900 und 1924) vermutlich eine ganze Heerschar von Überfliegern an den Start gehen wird. Dazu gehört längst auch der Südtiroler Tennisprofi Jannik Sinner, der neben vielen anderen Turnieren während des gesamten Jahres seine ersten Olympischen Spiele in Angriff nehmen kann, auch wenn der rote Sand von Roland Garros nicht unbedingt sein Lieblingsterrain ist. Zunächst geht es sowieso erst einmal aufs Wasser. Bereits die Eröffnungsfeier wird nämlich auf der Seine stattfinden. Auf einem Fluss. Das hat es noch nie gegeben. Aber vielleicht ist das auch ein Sinnbild für unser Dasein. Alles fließt, mal schnell, mal langsam, aber immer stetig und definitiv unaufhaltsam. Das gilt letztlich auch für Überflieger. Auch sie haben nur kurzzeitig Konjunktur. Wie das Leben an sich.

In diesem Sinne wünsche ich allen, die sich auch diesmal durch diese Zeilen gekämpft haben, ein gutes, gesundes und sportliches Neues Jahr.

Der Autor: Sigi Heinrich Der vielfach preisgekrönte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich und ernst oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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