Mythos Stilfser Joch: Wenn eine lange Nacht zum Verhängnis wird

Am 1. Juni 1953 fährt der Tross des &bdquo;Giro d’Italia“ erstmals auf das Stilfser Joch. Über 12 Etappen trägt der Schweizer Hugo Koblet das &bdquo;rosa Trikot“ des Gesamtführenden, er dominiert den Giro offenbar nach Belieben. Die Etappe Bozen–Stilfser Joch–Bormio wird zur Entscheidungs-Etappe: Am Stilfser Joch kommt es zum spannungsgeladenen Duell zwischen Fausto Coppi und Hugo Koblet. Der Mythos der &bdquo;Cima Coppi“ entsteht.

Vorgeschichte auf den Dolomiten-Pässen Bereits die Etappe von Auronzo nach Bozen ist an Spannung kaum zu übertreffen. Die großen Rivalen Fausto Coppi und der Schweizer Hugo Koblet kämpfen um jeden Meter Vorsprung auf den Dolomiten-Pässen. Beim Aufstieg zum Pordoi Joch holt Coppi Zeit auf, am Sella Joch gelingt es Coppi sogar, Koblet um 1.30 Minuten abzuhängen. Ob sich das Blatt nochmals zu Gunsten von Coppi wenden kann? Von wegen: 10 Kilometer vor dem Etappen-Ziel in Bozen ist &bdquo;Abfahrer“ Koblet wieder bei Coppi. Es kommt zu einer geheimen Abmachung zwischen den beiden: &bdquo;Dir die Etappe – mir der Giro – morgen wird nicht angegriffen“.

So lässt Gentlemen Hugo Koblet Fausto Coppi in Bozen als Sieger durchs Ziel fahren. Dieser Etappensieg bringt Coppi aber nichts, denn Hugo Koblet behält das &bdquo;rosa Trikot“ mit einem Vorsprung von 1.59-Minuten auf Coppi.

Bozen: Coppi gratuliert Koblet Der &bdquo;Giro“ scheint entschieden, Fausto Coppi geschlagen: Der Italiener gratuliert seinem Rivalen: &bdquo;Du hast den Giro gewonnen“. Auch den Medien erklärt Coppi, dass die Dolomiten-Pässe seine letzte Chance auf das &bdquo;rosa Tricot“ gewesen seien: &bdquo;Für mich ist der Giro vorbei, Koblet hat ihn gewonnen, und für mich ist es keine Schande, von so einem Champion geschlagen zu werden.“

Die Fans vom &bdquo;Campionissimo“ sind schwer enttäuscht, denn sie hatten große Hoffnung, dass ihr Idol doch noch gewinnen könne.

Schweizer feiern Sieg In der Nacht in Bozen wird im Schweizer Team der &bdquo;Giro-Sieg“ scheinbar ausgelassen bis tief in die Nacht hinein gefeiert. Am nächsten Morgen hat sich dies schnell herumgesprochen. So geht der Chef vom Bianchi-Rennstall, Ettore Milano, persönlich zur Autogrammstunde von Hugo Koblet und bittet ihn um ein Erinnerungsfoto. Hugo Koblet hat eine große dunkle Sonnenbrille auf, Ettore Milano bittet ihn, für das Foto die Brille abzunehmen und er erkennt deutlich die tiefen Ringe unter den müden, roten Augen. Dies wird sofort im Bianchi-Team besprochen – Hoffnung bäumt sich auf, vielleicht ist der Giro noch nicht verloren?

Start in Bozen Der Tag ist schön, aber bewölkt. Die kribbelnde Atmosphäre, welche die Karawane umgibt, ist deutlich zu spüren. Es ist der große Tag der Stilfser- Joch-Etappe, der Tag, an dem sich die endgültige Wertung des Giro entscheidet. 86 Fahrer sind noch dabei, sie starten um 13.15 Uhr am Bozner Mazziniplatz.

Nach 28 Kilometern passiert die Giro-Gruppe Meran, dann geht es weiter durch den Vinschgau, wo den Fahrern ein frischer Wind entgegen bläst, was die Durchschnittsgeschwindigkeit auf unter 30km/h senkt. Es gibt schlechte Nachrichten vom Stilfser Joch: Ein Schneesturm kündigt sich an. Die Fahrer vom Bianchi-Rennstall bestimmen das Tempo und ab Prad wird es spannend: Dort endet der Asphalt und es beginnt eine Schotterstraße. Es geht bergauf, Tannenwälder warten, dazu hohe Berge mit den schneeweißen Gipfeln der Ortlergruppe.

Von Trafoi auf's Stilfser Joch Die Gruppe bleibt noch zusammen, aber vor der imposanten Bergkulisse der Ortlergruppe beginnt bei Trafoi auf den ersten Kehren der Stilfser-Joch-Straße der strategische Teil des Rennens: Carrea gewinnt das Zwischenziel in Trafoi vor Gismondi und Coppi, an seinem Rad hängen Koblet, Fornara, Ockers, Defilippis und Bartali. Der Himmel hat sich geöffnet, eine warme Sonne erhellt die Landschaft, der Wind wird schwächer. Die Fahrer sind erleichtert: Es wird keinen Schneesturm geben am Stilfser Joch. Gleich nach Trafoi gibt Coppi seinem jungen Teamkollegen Defilippis den Hinweis: &bdquo;Mach Du jetzt einen Angriff.“

Das große Duell Defilippis attackiert und löst sich von der Gruppe, nur Coppi, Koblet, Fornara, Bartali, Ockers und Ruiz folgen ihm, aber sie können die Geschwindigkeit bergauf nicht lange mithalten. Koblet rackert sich verzweifelt ab, fällt aber zurück, er ist in Schwierigkeiten. Jetzt sprintet Fausto Coppi los. Jetzt gilt der &bdquo;Nicht-Angriffspakt“ vom Tag vorher nicht mehr. Entfesselt fliegt er die Kurven des Stilfser Jochs hoch und hängt alle ab.

<a data-caption="Hatte bei der Stilfser-Joch-Premiere im Jahr 1953 großes Pech – vor allem auf der spektakulären Schluss-Abfahrt hinunter zum Ziel nach Bormio: Der Schweizer Ausnahmefahrer Hugo Koblet." data-fancybox="inline-166984" target="_image" href="https://s3-images.sportnews.bz/_images/scale/1280x1280/img/2023/07/hatte-bei-der-stilfser-joch-premiere-im-jahr-1953-grosses-pech-vor-allem-auf-der-spektakulaeren-schluss-abfahrt-hinunter-zum-ziel-nach-bormio-d.jpg"> Hatte bei der Stilfser-Joch-Premiere im Jahr 1953 großes Pech – vor allem auf der spektakulären Schluss-Abfahrt hinunter zum Ziel nach Bormio: Der Schweizer Ausnahmefahrer Hugo Koblet.

Die tausenden von Fans tragen ihn mit ihren Jubel-Schreien förmlich hoch über die Serpentinen. In den letzten Kurven türmt sich der meterhohe Schnee, oben am Pass auf 2760 Meter wird Fausto Coppi von einer tobenden Menge empfangen und bejubelt, dann folgen die anderen: Fornara mit 2.17-Minuten Rückstand, Bartali mit + 2.48, Defilippis mit + 3.27, Carrea mit + 4.23 und schließlich Koblet. Sein Rückstand: +4.25.

Dramatische Aufholjagd Die letzte Herausforderung liegt in der 22 km langen Abfahrt vom Stilfser Joch zum Zielort Bormio. Die Beschaffenheit der Straße ist schwierig: Nicht asphaltiert, steinig und teilweise mit engen, noch immer vereisten Kurven. Fausto Coppi ist ein vorsichtiger &bdquo;Abfahrer“, aber 4.25 sind ein gutes Polster. Coppi weiß, was auf dem Spiel steht, er wittert seine Chance, er fährt schneller abwärts als sonst.

&bdquo;Abfahrtsspezialist“ Hugo Koblet startet seine Aufholjagd, er fährt volles Risiko: In einer Kurve muss er abrupt bremsen und stürzt. Er rappelt sich auf und fährt weiter, als wäre nichts passiert. Dann stürzt er noch ein zweites Mal, und 7 km vor dem Ziel hat Koblet auch noch einen Reifenschaden. Das Ersatzrad ist gleich gewechselt und weiter geht’s!

Ziel in Bormio Während Coppi in Bormio bereits durchs Ziel fährt und von den begeisterten Fans bejubelt wird, kommt Fornara mit 2.18 Minuten Rückstand an, Bartali nach 2.48 Minuten und schließlich Koblet nach 3.28 Minuten. Koblet war trotz seiner Stürze und des Reifenschadens der Schnellste bei der Abfahrt, er hat 57 Sekunden auf Coppi aufgeholt. Aber das hilft ihm nicht weiter – Coppi holt sich das &bdquo;Rosa Trikot“.

Am nächsten Tag startet der Tross des Giro d’Italia zur letzten Flach-Etappe von Bormio nach Mailand, die Gruppe bleibt zusammen und schließlich gewinnt Fausto Coppi das 5. Mal den Giro d’Italia.

Medien kreieren den Mythos der &bdquo;Cima Coppi“ Entsprechend überschlagen sich die Medien mit den Ereignissen dieser mythischen Giro-Etappe. So schreibt Giuseppe Ambrosini, Chefredakteur der Gazzetta dello Sport: &bdquo;Wenn wir gestern auf den Dolomiten-Pässen eine wahrhaft historische Stunde für den Giro und für den Radsport erlebt haben, so hat das, was wir heute am Stilfser Joch erlebten, alles übertroffen an Nervosität, Leidenschaft, Kampfgeist und Emotionen. Wir haben gelitten und uns gefreut, waren wie betäubt von der Größe und der Schönheit dieses Sports. Noch immer sind wir ergriffen von dem überwältigenden Naturschauspiel am Stelvio (Stilfser Joch), das noch nie zuvor ein Radrennen gesehen hat und dem Spektakel, das die Fahrer boten.“

<a data-caption="Waren bei der Eröffnung der „Cima-Coppi-Präsentation“ in der Kehre 46 in Trafoi mit dabei: Von links Silvia Cavazzi (Bürgermeisterin von Bormio), Franz Heinisch (Bürgermeister Stilfs), Faustino Coppi (Sohn von Fausto Coppi), Vito Fabiano (92-jähriger Zeitzeuge), Skilegende Gustav Thöni, Initiator Stephan Gander und Roland Brenner (Präsident der Stilfser-Joch-Gesellschaft)." data-fancybox="inline-166987" target="_image" href="https://s3-images.sportnews.bz/_images/scale/1280x1280/img/2023/07/waren-bei-der-eroeffnung-der-cima-coppi-praesentation-in-der-kehre-46-in-trafoi-mit-dabei-von-links-silvia-cavazzi-buergermeisterin-von.jpg"> Waren bei der Eröffnung der „Cima-Coppi-Präsentation“ in der Kehre 46 in Trafoi mit dabei: Von links Silvia Cavazzi (Bürgermeisterin von Bormio), Franz Heinisch (Bürgermeister Stilfs), Faustino Coppi (Sohn von Fausto Coppi), Vito Fabiano (92-jähriger Zeitzeuge), Skilegende Gustav Thöni, Initiator Stephan Gander und Roland Brenner (Präsident der Stilfser-Joch-Gesellschaft).

Durch das Rennen 1953 war der Mythos um die &bdquo;Cima Coppi“ geboren. In Radsportkreisen wird das Stilfser Joch heute noch als die &bdquo;Cima Coppi“ bezeichnet. Um an Fausto Coppi und seine heroischen Leistungen zu erinnern, wird der höchste Pass, der beim Giro d’Italia jedes Jahr überquert wird, als &bdquo;Cima Coppi“ bezeichnet. Dieser Anstieg bringt am meisten Punkte in der Bergwertung des Giro.

Ausstellung in Kurve 46 in Trafoi Zu Ehren an die legendäre Stilfser-Joch-Premiere beim Giro d'Italia im Jahr 1953 sind bei der Kurve Nummer 46 der Stilfser-Joch-Straße 6 Schautafeln angebracht. Sie zeichnen die epische Etappe vom 1. Juni 1953 nach.

Fußball

Italien

Internationale Ligen

International

Eishockey

Tennis

Wintersport

Mehr

Motorsport

Radsport

Wassersport

Events

Favoriten

Mythos Stilfser Joch: Wenn eine lange Nacht zum Verhängnis wird

Kommentare (0)