Zeitgleiche Ungerechtigkeit

Ein Leben rauscht mitunter in gefühlter Rekordgeschwindigkeit an einem vorüber und je älter man wird, desto länger will man leben, weil man ja stets meint, man habe dann doch das eine oder andere versäumt. Die Jahre fliegen dahin, die Monate und Tage scheinen immer mehr Geschwindigkeit aufzunehmen. Die Uhr wird zum ständigen Wegbegleiter gnadenloser Wahrheit. Sie ist und bleibt unbestechlich und ist in ihrer Genauigkeit mitunter auch ein nervendes Accessoire unseres Daseins auf dieser Welt. Stunden zählt sie herunter, Minuten, Sekunden. Ja sogar Hundertstelsekunden und Tausendstelsekunden teilt sie uns mit. Es ist eine nicht zu bezähmende Schreckensherrschaft, eine Tortur, eine Nadel, die beständig in allen Wunden wühlt. Aber wir brauchen sie. Als Anhaltspunkt, als Fixstern und als unbeugsamen Richter über Sieg oder Niederlage, wobei der Chronometer nicht daran schuld ist, dass ihm die Menschen gänzlich verfallen sind und keine Gnade kennen, wenn sie ihn benutzen. Er liefert nur. Zeiten. Ein kaum messbarer Unterschied Wie jene etwa beim 100m-Lauf der Frauen bei den Europameisterschaften in München. Hinter dem Namen von Gina Lückenkemper aus Deutschlang stand 10,99 Sekunden. Die gleiche Zeit notierte das Signal auch für die Schweizerin Mujinga Kambunji. Doch dann kommt zunächst die berühmte Klammer, in der eine weitere Zahlenreihe auftaucht. Bei Lückenkemper 984, bei Kambunji 989. Fünf Tausendstel Differenz, die herangezogen werden, um im Grunde nicht sichtbare Unterschiede erkennbar zu machen. Dazu kommt noch das Zielphoto. Rumpf vor Schulter lautete hier die Regelung. Lückenkemper wurde aufgrund dieser Kriterien Europameisterin, die Schweizerin bekam die Silbermedaille. Fünf Tausendstelsekunden. Vermutlich dauert ein Wimpernschlag länger. Schon Hundertstelsekunden sind ja nicht erkennbar und spürbar für uns. Nur die Technik gestattet uns, das Wort &bdquo;zeitgleich“ aus unserem sprachlichen Repertoire zu verbannen, wobei damit auch eine gewisse Ungerechtigkeit mit einher geht. Für mich wären zwei Goldmedaillen die bessere Lösung in einem solchen Fall.

Und es gab noch eine Steigerung. Über 110m Hürden gewann, so die einfache Lesensart im Ergebnisservice, der Spanier Asier Martinez mit 13,14 Sekunden. Oh ja, das ist eine gute Zeit, denn der Meisterschaftsrekord von Colin Jackson (GBR) aus dem Jahr 1998 steht bei 13,02 Sekunden. Ein verdienter Erfolg also. Aber auch Pascal Martinot-Lagarde aus Frankreich wäre ein würdiger Sieger gewesen. Er lief nämlich auch 13,14 Sekunden und war noch näher dran an seinem Konkurrenten auf der Bahn direkt daneben, als das beim Sprint der Frauen der Fall war. Doch die unerbittliche Uhr, dieses Monsterinstrument mit seiner gefühllosen Mechanik, hob den Zeigefinger und wies auf den Unterschied hin. Eine Tausendstelsekunde war der Spanier schneller. Ein Protest ist aussichtslos. Die Zahlen werden digital festgehalten und erscheinen später sogar auf Papier, so dass sie schier festgemauert erscheinen und nie mehr verrückbar sind. Ein Sieger und ein zweiter Platz. Zwei Goldmedaillen sind möglich Wie schön wäre es doch gewesen, bei solch einem, ja dem geringsten Unterschied, den wir noch messen wollen, beiden Athleten eine Goldmedaille um den Hals zu hängen. Das würde das Wesen des Sports, auch des Sprints, nicht untergraben. Zweimal bis auf die Hundertstelsekunde gleich sollte auch zum gleichen Ergebnis führen. Das wäre gerecht und schön wäre es auch. Wir erinnern uns doch gerne an den Italiener Gianmarco Tamberi und Mutaz Essa Barshim aus Katar, die bei den Olympischen Spielen in Tokio die gleiche Höhe sprangen. Sie hätten ein Stechen austragen müssen. Eigentlich. Da stellten sie dem Kampfrichter die simple Frage, ob denn zwei Goldmedaillen möglich seien. Die Antwort war salomonisch: &bdquo;Wenn ihr euch einig seid.“

Gianmarco Tamberi teilte sich in Peking die Goldmedaille. © APA/afp / BEN STANSALL

Die Reaktion darauf ist Geschichte und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Zweimal Gold. Es ist also möglich. Ich erinnere mich an ein Verfolgungsrennen im Biathlon. Bei den Weltmeisterschaften in Chanty Mansijsk 2003 rutschten die Deutsche Martina Glagow und die Französin Sandrine Bailly nebeneinander über die Ziellinie. Es war kein Unterschied auszumachen. Glagow wurde dennoch zunächst zur Siegerin erklärt. Nach mehrmaliger Begutachtung des Zielphotos wurde auch Bailly die Goldmedaille zugesprochen. &bdquo;Jetzt ist es perfekt“, sagte Glagow während der Pressekonferenz und fiel der in Tränen aufgelösten Französin um den Hals. &bdquo;Alles andere“, so Glagow hinterher, &bdquo;wäre ungerecht gewesen.“ Und sie fügte noch hinzu: &bdquo;Wenn es nur um einen Zentimeter oder zwei geht, sollte es zwei erste Plätze geben.“ Sie sprach mir damals schon aus dem Herzen.

Zur Person: Sigi Heinrich Der renommierte Sportjournalist, Buchautor und vielfach ausgezeichneter Eurosport-Kommentator (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises) widmet sich in seiner Kolumne “Sigi´s Spitzen“ nicht nur der gesamten Vielfalt des Sports. Auch Themen außerhalb seines gewohnten Metiers beschäftigen ihn. Mal sehr ernsthaft, oft auch mit einem verschmitzten Augenzwinkern und mitunter auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle was dabei sein.

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Zeitgleiche Ungerechtigkeit

Bei den Europameisterschaften in München zeigt sich die Zeitmessung wieder von seiner unerbittlichen Seite. Eine Tausendstelsekunde macht den Unterschied aus zwischen Gold und Silber. Unser Kolumnist Sigi Heinrich wäre in solchen Fällen für zwei Sieger und fände das gerechter.

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