Wo ist Olympiasieger Marcell Jacobs?

Nach den Olympischen Spielen ist vor der Zeit der Ernte. Jetzt sollen sich die Ergebnisse umwandeln in klingende Münze. Die Meetings der sogenannten Diamond-League stehen auf dem Programm. Es ist die höchste der drei Leichtathletik-Serien unter der Obhut von World-Athletics, dem Dachverband der Läufer, Springer und Werfer. Von Monte Carlo aus wird versucht, diesen Veranstaltungen, die stets am Abend stattfinden und maximal zwei Stunden dauern, Struktur zu geben. Ein irgendwie geartetes Gleichgewicht zu finden, was die Teilnahme betrifft, weshalb dafür auch Punkte vergeben werden. Und – simpel ausgedrückt – kann man dann mit einer guten Punktzahl auch bei Weltmeisterschaften starten, wenn die nationale Norm etwa nicht erfüllt worden ist. Sie sind ein Spektakel, diese Meetings und eigentlich immer Garant für Höchstleistungen. Wer auf sich hält, ist dabei, will dabei sein, weil die Startgelder ansprechend sind und auch Preisgeld ausgelobt wird.

Für das erste Meeting in Europa am 26. August in Lausanne (Schweiz) haben bereits 19 Olympiasieger gemeldet. Wer nicht in Tokio sein konnte und sein durfte, hat also Gelegenheit, die Elite der olympischen Kernsportart Leichtathletik aus der Nähe zu sehen. Und gerade Lausanne hat es in sich. Ich kann mich noch, als wäre es gestern gewesen, an den Weltrekord 1994 von Leroy Burrell (USA) erinnern. Er lief damals 9,85 Sekunden. Die Zeit hielt zwei Jahre, ehe der Kanadier Donovan Bailey bei den Olympischen Spielen eine Hundertstelsekunde schneller lief. Seither wurde der Weltrekord sechsmal verbessert. Im Pressezentrum lag damals vor Burrells Rekordlauf ein Tippschein aus. Journalisten durften die mögliche Siegerzeit eintragen. Ich schrieb 9,85 hin und hatte das Glück, bei der Auslosung derjenigen, die ähnlich vorausschauend waren, zu gewinnen. Es gab, wie sollte es anders sein, eine Schweizer Uhr als kleines Geschenk. Viele Gerüchte um Jacobs Und in diesem Jahr? Es wird natürlich keinen neuen Weltrekord geben. Usain Bolts Marke von den Weltmeisterschaften in Berlin mit 9.58 Sekunden ist nach wie vor eine Zahl, die schwindeln macht. Der Lauf, unvergessen, fand am 16. August 2009 statt. Er war auch für mich als Kommentator ein Meilenstein. Bolt kam damals als Olympiasieger nach Berlin. Es wäre also jetzt die Zeit für den italienischen Triumphator von Tokio, Marcell Lamont Jacobs, der Welt zu zeigen, dass der Erfolg und die Zeit von 9.80 Sekunden auf einer festen Grundlage stehen. Eine Teilnahme in Lausanne und später vielleicht noch bei den Finals in Zürich und Brüssel wäre die perfekte Bühne für Jacobs. Marcell Jacobs konnte die Gerüchte um seine Person bislang nicht ausräumen. © APA/afp / JEWEL SAMAD

Doch der neue Sprintstar hat bekanntgegeben, dass er keine Rennen mehr bestreiten wird in diesem Jahr. Es tauchten Gerüchte auf, dass der 26-Jährige im letzten Jahr in einem diffusen Umfeld betreut wurde von einem sogenannten Ernährungsberater und Fitnesstrainer. Bereits seit 2019 laufen wohl Ermittlungen gegen Giacomo Spazzini, der sich offensichtlich auch damit brüstete, einen Anteil an der Leistungsexplosion von Jacobs zu haben. Spazzini handelte übrigens verbotenerweise mit Steroiden. Zwar hat Jacobs seit März die Zusammenarbeit beendet und weist selbstverständlich jedweden Dopingverdacht von sich. Um aber wirklich alle Zweifel auszuräumen, wäre es ratsam gewesen, sich blicken zu lassen. Wenn er eine Knieverletzung hat, wie kolportiert, dann hätte sich auch im Rahmen des Meetings von Lausanne bei der Pressekonferenz eine wunderbare Gelegenheit gegeben, sich der Öffentlichkeit zu zeigen. Und sei es nur als Zuschauer. Es wäre ein Imagegewinn gewesen für Jacobs, so ist es ein herber Imageverlust. So bleibt der Schatten über Jacobs Dass zwischenzeitlich das britische Mitglied der 4x100m-Silberstaffel, Chijindu Ujah, wegen mutmaßlichen Dopings suspendiert wurde, wie die Athletics Integrity Unit des Weltverbandes World-Athletics bekannt gab, mag eine gewisse Schadenfreude bei Jacobs ausgelöst haben, da vor allem aus Großbritannien Zweifel an den italienischen Erfolgen (Gold auch in der 4x100m-Staffel) gesät wurden. Eine gewisse Unsicherheit an Jacobs Steigerung auf 9.80 Sekunden bleibt dennoch, zumal er der einzige Athlet war im Finale von Tokio, der nicht zu den Sprintern gehörte, die bevorzugt getestet wurden. Dazu war er vorher nicht gut genug und stand somit nicht im Fokus möglicher Manipulationen. Der Schatten über Jacobs bleibt, auch wenn die beiden Goldmedaillen noch immer die Kraft haben, die bösen Geister zu verscheuchen. Bleibt für Jacobs und für alle Leichtathletik-Romantiker zu hoffen, dass es so bleibt. Wetten darauf würde ich freilich nicht eingehen wollen.

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