Kolumne | Zweifel begleiten neue Bestmarken

Der Schock sitzt noch immer tief nach meiner Live-Übertragung bei Eurosport vor ein paar Tagen. Denn es war mehr als nur eine Überraschung oder eine Sensation. Diese Zwei Stunden, neun Minuten und 56 Sekunden, die Ruth Chepngetich aus Kenia in Chicago für die 42 Kilometer und 195 Meter benötigte, für die offizielle Marathondistanz also, wirkten wie ein Laserstrahl aus einer fernen Galaxy. Einer mit fataler, weil irgendwie auch zerstörerischer Wirkung. Nichts ist nämlich jetzt noch so, wie es einmal war in der sowieso schon so komplizierten Welt des Spitzensports und schon gar nicht im Marathon. Grenzen wurden verschoben in ein neues Zeitalter. 02:09:56 Stunden. Unter 02:10 Stunden lief also zum ersten Mal eine Frau.

Ich schreibe es so noch einmal und starre wiederholt auf dieses Zahlenspiel aus einer anderen Welt. Sie hat natürlich gewonnen. Aber Achtung: Es ist der 11. Platz in der Gesamtwertung. Nur zehn Männer waren an diesem Tag schneller als die 30jährige Afrikanerin. Die ersten fünf Kilometer lief sie in genau 15 Minuten. Die Hochrechnungen ließen den Atem stocken. Hätte sie dieses Tempo halten können, wären es 02:06:00 Stunden geworden. Dann, garantiert, wäre mir nichts mehr eingefallen, was ich noch hätte sagen können.

Ruth Chepngetich bei ihrem Zieleinlauf in Chicago. © APA / MICHAEL REAVES

Der spätere Sieger bei den Männern, John Korir (Kenia), lief in seiner Gruppe diese ersten fünf Kilometer in 14:43 Minuten. Ruth Chepngetich hätte da fast mithalten können. Unfassbar. Am Ende lief sie 421mal die 100m in 18.485 Sekunden. Das einmal zu laufen, ist schon ganz ok. Zweimal in Folge schon eine Herausforderung, wenn man nicht gut trainiert ist. Dann ist Feierabend. Dann wären nur noch 419mal die 100m hintereinander in Folge im erwähnten 18-Sekundenbereich zu laufen, um mit der Kenianerin ins Ziel zu kommen. Wie gesagt, das schafften in einem Weltklassefeld lediglich zehn Männer. Ja, unfassbar ist das, zumal der neue Weltrekord fast zwei Minuten unter der alten Marke von Tigist Assefa aus Äthopien liegt. Und die 02:11:57 aus Berlin im vergangenen Jahr wurden ja schon als Fabelweltrekord bezeichnet. Nie, nicht einmal mit größtem Optimismus an die Leistungsfähigkeit der Frauen glaubend, schien eine derartige Entwicklung vorhersehbar zu sein. Gut, Ruth Chepngetich hatte in Chicago schon zweimal gewonnen. Dabei war sie allerdings 13 Minuten langsamer gewesen vor drei Jahren und 2022 fehlten fünf Minuten zu ihrer jetzt aktuellen Wahnsinnsbestmarke.

Sie kannte die Strecke, die als schnellste Marathonstrecke der Welt gilt. Ein Vorteil. Der aktuelle Weltrekord der Männer des in diesem Frühjahr tödlich bei einem Autounfall verunglückten Kelvin Kiptum wurde am Lake Michigan 2023 erzielt mit 02:00:13 Stunden. Die Erfahrungswerte sprechen also für Chepngetich, die freilich beim London-Marathon am 21. April dieses Jahres sang-und klanglos abgeschlagen auf dem 9. Platz landete mit 02:24:26 Stunden. Ein Ausrufezeichen ist da nicht genug. Fast eine halbe Stunde langsamer als jetzt in Chicago. Was, fragt man sich, ist dazwischen passiert?

Schuhe wie Springböcke Dann sind da natürlich die eigentlich nicht mehr so neuen Schuhkonstruktionen, die mit ihren in Schäume eingebetteten Carboneinlagen eine neue Welt erschlossen haben. Sie wirken wie kleine Federn, wie ein leichter Trampolineffekt. Der gesamte Laufstil hat sich dadurch verändert. Die Zeiten explodieren, auch in den Stadien und den kürzeren Strecken. Angeblich soll das neue Material auch für weniger Ermüdung sorgen und damit höhere Trainingsintensitäten ermöglichen. Die möglichen Risiken und neuen Verletzungsanfälligkeiten im Bereich der Achillessehne etwa und der stärkeren Beanspruchung im Mittelfuß sind ein eigenes Thema. Ein Spitzensportler wird nur die Vorteile einer möglichen besseren Leistung sehen. Sonst erst einmal nichts. Und diese sind gegeben.

Sie merken: Es ist eine fast schon verzweifelte Suche nach greifbaren Parametern für eine schier unglaubliche Leistung. Und wieder einmal taucht auch das Dopinggespenst auf. Nicht unerwartet, vor allem in diesem Fall, auch wenn es aktuell jetzt Ruth Chepngetich persönlich nicht betreffen mag. Aber Kenia steht nicht unbegründet seit Jahren unter Beobachtung der Welt-Antidoping-Agentur (WADA). Vor den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro drohte gar ein Ausschluss, der nur durch die Gründung einer Nationalen Doping-Agentur verhindert werden konnte. Von 2020 bis 2023 wurden 35 Langstreckenläufer aus Kenia des Dopings überführt. Und nun wurden nach umfangreichen Haushaltskürzungen in Kenia auch noch die Mittel für die Tests gekürzt, so dass Kenia eine weltweite Sperre fürchten muss. Klartext dazu sprach Daniel Makdwallo, der Vorstandschef der Nationalen Dopingagentur Kenias (ADAK). Man sei, meinte er unverblümt, nicht in der Lage, die bestehenden Verpflichtungen einzuhalten. &bdquo;Damit riskieren wir, den Anti-Doping-Code nicht einhalten zu können.“ Zweifel umgeben somit auch das herausragende Ergebnis von Chicago, wie freilich so oft Zweifel stete Wegbegleiter sind von Resultaten und Leistungen, die scheinbar in vielen Sportarten immer neue Dimension erreichen und die uns irgendwie letztlich doch ratlos zurücklassen. Und ein Ende ist der Jagd nach neuen Bestmarken ist nicht in Sicht.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten &bdquo;Grimme-Preis“), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit der Gründung von Eurosport 1989 Kommentator in vielen Sportarten, widmet sich in seiner Kolumne der gesamten Vielfalt des Sports. Darüber hinaus wildert er gerne in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

Fußball

Italien

Internationale Ligen

International

Eishockey

Tennis

Wintersport

Mehr

Motorsport

Radsport

Wassersport

Events

Favoriten

Kolumne | Zweifel begleiten neue Bestmarken

Kommentare (0)