Hochbetrieb im Fundbüro

Es geht einiges verloren im Moment. Der Glaube, dass wir die Klimawende schaffen, ist der vielleicht elementarste Verlust. Er ist nicht greifbar, dafür massiv zu spüren, weil überall in der Welt die Flammen lodern und den Himmel verdunkeln. Weil Berge in Bewegung geraten und Häuser unter sich begraben und Bäche zu reißenden Ungeheuern werden, die alles, was sich ihnen in den Weg stellt, gnadenlos und unerbittlich zerstören. Wir sehen grauenvolle Szenarien und fühlen uns dabei hilflos und erschreckend machtlos, weil vieles beinahe apokalyptische Ausmaße angenommen hat.

Früher, ja früher, da waren wir nur Beobachter am Rande. Aber längst sind wir alle mittendrin und kennen Freunde, Verwandte, die unwiederbringliche Verluste erlitten haben, die in dieser, unserer kurzen Zeitspanne auf diesem Planeten, nicht mehr ersetzt werden können. Niederlagen hingegen, wie wir sie bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest zwangsläufig häufig erleben, sind keine Verluste, sondern nur das Scheitern an den eigenen und natürlich hohen Erwartungshaltungen. Und doch geht mitunter etwas verloren, das im Grunde unersetzbar wäre, würde es nicht um einfache aber ungewollte Wortspiele gehen.

Bol verliert die Beine Gut, müde Beine sind natürlich unangenehm, weil sie, wie wir mitunter nach einer langen Bergtour auch erfahren können, ihrem Dienst nicht mehr wie gewünscht nachkommen. Das ist dann in unserem Fall nicht besonders schlimm. Man kommt halt etwas später als geplant am Gipfel an. Ein Läufer mit solchen Beinen verliert dann allerdings sein Rennen. Und noch dramatischer ist es, wenn das Werkzeug der Fortbewegung plötzlich gänzlich weg ist. Sie habe, sagte etwa die Niederländerin Femke Bol als Schlussläuferin der Mixed-Staffel, die Beine verloren bei ihrem Sturz. Das ist ein wahrlich massiver Verlust, der zum Glück nicht äußerlich sichtbar wurde, denn sie rappelte sich ja noch auf und schleppte sich ins Ziel auf eben diesen Beinen. Gemeint war der Verlust der Kontrolle über die Koordination ihrer Extremitäten.

Femke Bol war am Boden zerstört. © AFP / ANDREJ ISAKOVIC

Die Angelegenheit ist wissenschaftlich leicht zu erklären. Der Stoffwechsel des Organismus ist mit der Distanz von 400 Metern überfordert. Es entsteht eine Sauerstoffschuld. Es wird mehr Sauerstoff gebraucht als geliefert werden kann. Die freilich weiterhin benötigte Energie wird anaerob-laktazid bereitgestellt, also ohne Sauerstoff unter starker Produktion von Milchsäure, dem Laktat. Ganz simpel ausgedrückt werden jetzt die Beine blau, wie Sportler das gerne benennen und im schlimmsten Fall verliert man sie eben auch. Gefühlt natürlich nur, weil man sie nicht mehr steuern kann. Dramatisch hat das mal der deutsche Professor Wildor Hollmann von der Deutschen Sporthochschule in Köln so geschildert: &bdquo;Fragen Sie mich nicht, warum ein 400m-Läufer im Ziel noch lebt, ich weiß es nicht.“ Gemeint ist die extreme Übersäuerung des gesamten Organismus, die für einen &bdquo;normalen“ Menschen nicht mehr mit dem Leben vereinbar wäre. Zum Glück trainieren die Athleten dies und überleben und so sind die paar Momente, in denen die Beine ihren Dienst komplett versagen, eher selten.

Verlust der Hüfte Aber es geht noch schlimmer. Gina Lückenkemper, die deutsche 100m-Sprinterin. hat sich in Budapest im Fundbüro gemeldet, vermutlich brav den Anmeldezettel ausgefüllt und ihren Verlust gemeldet: Die Hüfte. Lückenkemper beklagte zunächst leichte Rückenprobleme. Dabei muss man wissen und ahnt wohl auch, dass jedes auch noch so kleine Zwicken in irgendeiner Muskulatur den auf maximalen Erfolg getrimmten Körper in seiner Funktion einschränkt. Kann die beim Sprint in unzähligen Trainingseinheiten vorbereitete optimale Körperposition in einem Abschnitt des Rennens deshalb nicht eingenommen werden, fehlt die gewünschte Dynamik.

Gina Lückenkemper hat das WM-Finale verpasst. © ANSA / Tibor Illyes

Bei Lückenkemper, die jetzt immer noch kein WM-Finale erreicht hat, wirkte sich das im Halbfinale fatal aus. &bdquo;Das hat mich nicht in Ruhe gelassen und dann habe ich hintenraus die Hüfte verloren.“ Und weiter führte sie noch aus, dass sie sich durchaus gut gefühlt habe. &bdquo;Aber ich habe es nicht mehr auf die Bahn gebracht.“ Eine rekonstruktive plastische Chirurgie ist natürlich nicht notwendig. Die Hüfte tauchte bald wieder auf und sie wird noch einmal benötigt für den Einsatz in der Staffel.

Das neue Material hat auch Nachteile Immerhin ist die Weltmeisterschaft für sie noch nicht vorbei. Für andere begann sie nicht einmal. Noch nie gab es im Vorfeld der größten Leistungsshow der Leichtathleten so viele Absagen auch von potentiellen Medaillenkandidaten. Die Mehrzahl beklagt Probleme mit der Achillessehne, am Knie oder muss Muskelrisse auskurieren. Der immer so erwünschte technologische Fortschritt bei den Schuhen oder den immer härter werdenden Bahnen fordert seinen Tribut, denn noch haben sich Athletinnen und Athletinnen nicht gänzlich mit ihrer Trainingsmethodik auf die neuen Materialien eingestellt. Es ist ein explosives Gemisch geworden für gute Leistungen, aber auch für Verletzungen. Der auch negative Einfluss der neuen Schuhe mit Carbon-Einlagen ist noch längst nicht erforscht. Olaf Ueberschär, Professor für Mensch-Technik-Interaktion und Biomechanik sagte der &bdquo;Berliner Zeitung“: Man sieht jetzt auch die negative Seite und schaut, ob die Probleme in der Gesamtbilanz vielleicht tatsächlich gravierender sind als die Vorteile.“ Bis dahin machen wir uns auf weiterhin auf die Suche nach verlorenen Beinen und Hüften.

Zum Autor: Sigi Heinrich

Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist, Buchautor und Eurosport-Kommentator, widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi`s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend und mitunter mit persönlichem Touch. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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