Ein historischer Moment

Nun steht es wohl unwiderruflich fest: Berlin ist eine Reise wert. Eliud Kipchoge, der kenianische Ausnahmeläufer, wusste das schon lange und verzichtete deshalb auf den New York-Marathon. Die Veranstalter in den USA wollten den schnellsten Menschen der Welt über diese legendäre Distanz gerne verpflichten. Kipchoge freilich blieb trotz durchaus lukrativer Offerten dem Lauf in der deutschen Hauptstadt treu. Viermal hatte er hier schon gewonnen, zweimal dabei in Weltrekordzeit (2:01:09 Stunden) Jetzt siegte er zum fünften Mal, wobei er wieder alleine ins Ziel kurz hinter dem Brandenburger Tor kam. Es wurde zwar kein neuer Weltrekord aber seine Zeit von 2:02:42 Stunden ist immerhin die achtschnellste jemals gelaufene Marke bei einem Marathon. Zwei Minuten später beendete der Deutsche Amanal Petros sein Berliner Abenteuer. Die 2:04:48 Stunden bedeuteten einen neuen deutschen Rekord, den er zuvor schon hielt. Noch nie war ein deutscher Läufer so schnell. Petros ist mithin jetzt in der absoluten Weltelite angekommen, obwohl er letztlich doch nur auf dem 9.Platz landete. Aber in diesem Metier haben sich die Grenzen mittlerweile auf ein Niveau verschoben, dass man noch vor ein paar Jahren für unmöglich hielt. Noch mehr als bei den Männern trifft das auf die Frauen zu. Berlin war in diesem Jahr ein Meilenstein in der Geschichte der Leichtathletik durch den Erfolg von Tigist Aseffa aus Äthiopien. 2:11:52 Stunden war ihre Siegerzeit. Das liest sich jetzt so lässig. Zwei Stunden, elf Minuten und 52 Sekunden für 42,195 Kilometer. Ich kenne niemanden, keine Trainer, Journalisten oder wen auch immer, die diese Zeit jemals für möglich gehalten hätten. Auch unter den Aktiven selbst schien schon der alte Weltrekord von Birgid Kosgei, aufgestellt 2019 in Chicago mit 2:14:04 Stunden, ein Wert für eine gefühlte Ewigkeit zu sein. Nun pulverisierte ihn Tigist Assefa und nichts ist mehr so, wie es einmal war im Marathon. Es gab sogar eine Phase im Rennen, ziemlich spät sogar etwa nach 30 Kilometern, da lief die 29jährige einen Kilometer knapp über drei Minuten und war damit für einen Moment genauso schnell unterwegs wie Kipchoge. Ich habe den Marathon mit drei Experten für Eurosport kommentiert. Wir rieben uns alle die Augen, schauten uns ungläubig an und wussten in diesem Augenblick, dass wir Zeitzeugen waren eines Augenblicks, der den Sport für immer prägen würde. Nur 28 Männer waren schneller Es war ein sporthistorischer Moment. Am Ende waren gar nur 28 Männer schneller als Assefa, die zudem in Berlin erst ihren dritten Marathon bestritt. Sie begann ihre Laufbahn als 800m-Läuferin und blieb über die zwei Stadionrunden 2014 in Lausanne unter zwei Minuten, der Schallgrenze für diese Distanz. Dann sattelte sie vier Jahre später um auf die Marathondistanz und verbesserte bei ihrem Sieg in Berlin im vergangenen Jahr ihre erste Zeit von 2:34:01 aus Riad im März 2022 um 18 Minuten. Das sorgte schon damals für Aufsehen. Doch Insider wussten, dass sie bei ihrem Debüt nicht hundertprozentig fit war. Die 2:15:37 Stunden ein halbes Jahr später offenbarten dann ihr ungewöhnliches Potential. Jetzt hat sie ihr wahres Können gezeigt bei idealen Wetterbedingungen und mit Schuhen, die zweifellos die Leistungen begünstigen, egal von welchem Hersteller sie auch sind. Alle haben eingebaute Karbonplatten oder Karbonstifte in den erhöhten Sohlen. Sie ermöglichen höhere Trainingsumfänge und schonen die Muskulatur. Und die neuen Treter vermitteln das Gefühl, als würde man wie auf Wolken schweben. Ich bezeichne das gerne als Trampolineffekt. Die neue Technologie hat also zweifellos einen erheblichen Anteil an der Leistungsexplosion. Vergleichbar ist die Siegerzeit von Assefa in Berlin vielleicht mit den 8.90 Metern, die einst Bob Beamon sprang 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexiko. Auch damals war wie jetzt auch für die Äthiopierin alles wirklich perfekt. Der Rückenwind war mit zwei Metern pro Sekunde gerade noch im erlaubten Bereich, um den Rekord anzuerkennen. Beamon traf das Brett auf den Millimeter genau und die Höhenlage von Mexiko mag auch ihren Anteil gehabt haben. Bis 1991 hielt dieser Weltrekord. Von vielleicht noch größerem Kaliber sind die 100m (10.49 Sekunden) und 200m-Zeiten (21.34 Sekunden) von Florence Griffith Joyner (USA), die nun schon seit 35 Jahren Bestand haben, wenngleich der diese Leistungen stets begleitende Dopingverdacht nie ganz ausgeräumt werden konnte. Dennoch: In den Statistiken stehen diese Zahlen und auch jener Wert von Berlin von Tigist Assefa wird wohl für einen vermutlich langen Zeitraum eine Traumgrenze bleiben. Eine Wand, die vielen als unüberwindbar gelten wird, obwohl bestehende Bestmarken möglicherweise auch ein Ansporn sein können, dem schier Unmöglichen auf den Leib zu rücken. Man darf deshalb gespannt sein auf die nächsten Versuche, auf die nächsten Marathonrennen. Köln, Amsterdam, New York oder Valencia wappnen sich, wobei jetzt mehr und mehr die Frauen im Focus stehen werden. Das ist der schönste Nebeneffekt der Sensation von Berlin. Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist, Buchautor und Eurosport-Kommentator widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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