Ein gieriger Rhythmus

Natürlich zieht man nach einer ungewöhnlich großen Sportveranstaltung wie der Leichtathletik-Weltmeisterschaft stets irgendeine Art von Fazit. Etwa was die Organisation betrifft und den Zuschauerzuspruch (sehr gut bis exzellent) und auch die Stimmung im Stadion (ansteckend begeisternd). Die sportlichen Leistungen werden selbstverständlich auch einer Analyse unterzogen. Es hat sich gezeigt, dass in fast allen Disziplinen das Niveau noch einmal deutlich gestiegen ist. Mit Leistungen, die noch vor ein paar Jahren für eine Medaille reichten, konnte man diesmal gerade noch in die Finals kommen.

So mancher Nation sind in Budapest die Augen aufgegangen, denn nun sind Versäumnisse der letzten Jahre gnadenlos offengelegt geworden. Der Ausrichter der nächsten Olympischen Spiele, Frankreich, sicherte sich erst im letzten Wettbewerb, der Staffel über die Stadionrunde, die letztlich einzige Medaille. Deutschland ging zum ersten Mal in der Geschichte der Weltmeisterschaften leer aus. Ein vierter Platz durch den Speerwerfer Julian Weber und drei fünfte Plätze waren die mehr als nur magere Ausbeute. Mit Indien, Botswana oder Pakistan schoben sich bislang sogenannte kleine Nationen in der Leichtathletik an den Traditionsteams vorbei. Kanada etwa gewann in den letzten 17 Jahren sieben Goldmedaillen, diesmal gleich vier.

Erfolgreiche Italiener Italien durfte zufrieden sein mit auch vier Medaillen und stellte zudem mit Gianmarco Tamberi (Gold im Hochsprung) den besten Entertainer. Budapest war insgesamt und ohne irgendeine nationale Brille zu bemühen, ein Erfolg, der natürlich schon wieder Begehrlichkeiten weckt, wie die Aussage von Lord Sebastian Coe, dem Präsidenten von &bdquo;Worldathletics“, dem internationalen Dachverband, vermuten lässt. &bdquo;Ich könnte mir auch vorstellen, jedes Jahr eine WM durchzuführen“, meinte er, was mich dann doch überrascht. Denn bislang galt der Brite, der ein Weltklasseathlet war und danach OK-Chef der Olympischen Spiele in London 2012, als kluger und kühler Taktiker, dem es gelungen war, seinen Verband nach den problembeladenen Jahren und den fragwürdigen Geschäften seines Vorgängers Lamine Diack zu konsolidieren.

Gianmarco Tamberi gewann Gold. © APA/afp / ANDREJ ISAKOVIC

Sticht ihn jetzt der Hafer? Er hat sich auch nicht ablehnend gegenüber der Idee gezeigt, Titelkämpfe unter dem Dach seiner Organisation in Saudi-Arabien durchzuführen. Es scheint fast so zu sein, als sei er möglicherweise nach einer scharfen ungarischen Gulaschsuppe übermütig geworden. Dabei gibt es immer noch in der aktuellen Lage genug Beispiele, die Verbesserungspotential haben. Der Zeitplan etwa ist im Grunde eine Zumutung für die Zuschauer. Die Wettkämpfe dauern zu lange. Zu oft überlappen sich spannende Entscheidungen. Während Läufer um Medaillen kämpfen, stoßen an einem Ende des Stadions die Kugelstoßer um die Wette. Unbeachtet deshalb wie Dreispringer oder Hochspringer während auf der Laufbahn verbissene Positionskämpfe stattfinden. Ein paar Raketen bei der Vorstellung der Athleten sind zu wenig, um dies als gravierende Veränderung, ja gar als Verbesserung zu akzeptieren. Seit Jahren hat sich in diesem Bereich kaum etwas geändert.

Zu viele Weltmeisterschaften Es ist klar, dass es schwer ist in der Leichtathletik, die ja eine riesige Mischung vieler verschiedener Sportarten ist, einen Konsens zu finden, der alle zufrieden stellt. Mit einem veränderten und verkürzten Veranstaltungsmodus wären die Probleme zudem auch nur ansatzweise gelöst. Im Gegenteil. Eine Flut von Titeln würde jeden einzelnen entwerten. Beispiele dafür gibt es genug. Vor allem Wintersportverbände (Eishockey, Eiskunstlauf, Biathlon) sorgen mit ihren jährlichen Weltmeisterschaften dafür, dass den Aktiven kaum noch Verschnaufpausen bleiben. Schon jetzt weisen vielfach Trainer und Wissenschaftler darauf hin, dass durch die Flut der Wettkämpfe kaum Zeit zur Regeneration bleibt.

Vor Budapest gab es länderübergreifend eine erschreckende Anzahl an Absagen aus Verletzungsgründen. Im Lauf des Zehnkampfes in Budapest verabschiedeten sich neun Athleten aus dem Geschehen, darunter mit Niklas Kaul auch der jüngste Weltmeister aller Zeiten (Doha 2019). Er ist erst 25 Jahre alt und schon jetzt extrem verletzungsanfällig. Und er ist beileibe nicht der Einzige, der beinahe gezwungen ist, mit seinem Körper Raubbau zu betreiben. Man könnte jetzt anfügen, dass Radsportler schließlich auch jährlich bei ihren Rundfahrten und Einzelrennen gefordert werden. Doch dort geht es nie um mögliche Rekorde, um Zahlen und Daten, die ständig mit denen der Vergangenheit verglichen werden.

Das macht die Leichtathletik einzigartig, für die Protagonisten aber auch besonders schwierig, weil ständig die Bestleistungen der Vorgänger über ihren Häuptern schweben. Jetzt darf der Zirkus erst einmal eine Pause einlegen, die indes für alle nur kurz sein wird, denn der nächste Höhepunkt steht in einem Jahr mit den Olympischen Spielen in Paris auf dem Programm. Danach, soviel steht schon fest, ist Tokio der nächste Austragungsort einer Leichtathletik-WM. Und schon jetzt kann man absehen, dass 2025 nicht vergleichbar sein wird mit Budapest.

Die Japaner stehen dieser WM skeptisch gegenüber. Sie ächzen immer noch unter den Korruptionsskandalen im Rahmen der Olympischen Spiele und unter den finanziellen Belastungen, die durch den fehlenden Ticketverkauf (Corona) entstanden sind. Angeblich stehen danach die Bewerber für eine Leichtathletik-Weltmeisterschaft schon Schlange. Es ist wie ein Trommelwirbel, der immer stärker wird und an Lautstärke stets zuzunehmen scheint. Irgendwann wird dann auch unser Interesse nicht größer, sondern eher geringer werden. Wir sind jetzt schon übersättigt und kaum noch in der Lage, alles zu konsumieren, was uns interessiert. Eine Pause täte gut und glücklicherweise sind die Monate bis zum Winter eher ruhig, ehe die Membranen wieder glühen werden.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist, Buchautor und Eurosport-Kommentator widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein. Zuletzt standen die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in der vergangenen Woche in Budapest in seinem Focus mit drei Beiträgen in Folge. Dieser ist der letzte.

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