Der Rekord von Florence Griffith-Joyner wackelt

Ich weiß. Es wird wieder Fußball gespielt. Das heißt schlicht und einfach, dass alles andere im Sportbetrieb zur Nebensache wird. Die Paralympics etwa, die in Tokio ausgetragen werden, sind eine Randerscheinung, zumal in Japan die Angst vor Corona das beherrschende Thema ist. Die Infektionszahlen schnellen in die Höhe, die Krankenhäuser sind schon überlastet. Es ist ein Wagnis. Aber wie gesagt: Nebensache.

Der Ball rollt ja. Eine Volleyball-Europameisterschaft findet auch gerade statt aber da haben wir noch Zeit. Das geht bis zum 4. September. Und in die Pedale wird auch getreten und zwar heftig bei der Vuelta in Spanien. Radrundfahrten sind schwer in, weil ja allenthalben das Rad an sich als zukunftsweisendes Fortbewegungsmittel gepriesen wird. Immer mehr Radwege schlängeln sich entlang der Autostraßen, auf denen dann doch die Rennradfahrer unterwegs sind, weil spezielle Radtrassen ja in deren Augen nur für die langsamen Radfahrer gebaut werden. Ein richtiger Rennradler dagegen riskiert immer noch lieber Leib und Leben und lässt sich wahnsinnig gerne von Autos überholen und an die Seite drücken. Aber gut, die Teilnehmer an der Vuelta haben freie Fahrt wie alle, die an organisierten Veranstaltungen teilnehmen.

Da wird dann der böse Individualverkehr schnell mal ausgebremst. In den Niederlanden fand eben die BMX-Weltmeisterschaft statt. Erwachsene Menschen auf viel zu kleinen Rädern sausen auf einem künstlichen Parcours um die Wette. Niedlich anzuschauen und weil es auch spektakuläre Stürze gibt, kommen Zuschauer. Hereinspaziert. Spektakel garantiert. Und die sogenannte Kernsportart, die Leichtathletik? Ach ja, die lebt auch noch. Irgendwie dümpelt sie am Rande der Aktivitäten vor sich hin und so entgeht vielen, dass sich gerade hier Wunderliches ereignet. Fabelzeiten machen die Runde, die kaum zu glauben sind. Ein Rekord, der für die Ewigkeit geschaffen schien Vor 33 Jahren lief Florence Griffith-Joyner bei den Ausscheidungen der US-Leichtathleten in Indianapolis für die Olympischen Spiele in Seoul 10.49 Sekunden. Die erste Diva der Leichtathletik, wie sie gerne genannt wurde, hatte einen Rekord markiert, der für die Ewigkeit geschaffen zu sein schien. Dopingvorwürfe begleiteten freilich diese magische Zahl. Einen positiven Test gab es indes nie, wenngleich erst nach 1988 Tests auch außerhalb von Wettkämpfen organisiert wurden. Da hatte sich Griffith-Joyner bereits zurückgezogen. Sie starb mit 38 Jahren und auch ihr Tod wurde vielfach in Zusammenhang mit der Einnahme leistungsfördernder Mittel in Verbindung gebracht. Einen Beweis dafür gab es auch nie. Jetzt ist ihr Name wieder im Gespräch, denn einer Jamaikanerin gelang beim Diamond-League-Meeting in Eugene (USA) ein schier unglaubliches Kunststück. Elaine Thompson-Herah, die dreimalige Olympiasiegerin von Tokio, die ja auch schon vor fünf Jahren in Rio de Janeiro zweimal Gold gewann, berührte den Weltrekord mit ihren 10.54 Sekunden. Es ist die zweitschnellste jemals gelaufene Zeit der Frauen über 100 Meter. Klar, es ist kein Torschuss, aber es ist fast ein Meilenstein in der Leichtathletik. Florence Griffith-Joyner war die erste Diva der Leichtathletik. © APA

Nie, wirklich nie hatte man es für möglich gehalten, dass irgendwer auch nur annähernd an den Rekord von Griffith-Joyner herankommen könnte. Und jetzt dieser Paukenschlag, der gleichzusetzen ist mit den Weltrekorden über 400m Hürden bei den Olympischen Spielen sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern. Es ist fast so, als wolle man demonstrieren, dass auch die Ewigkeit nur eine Zeitspanne ist. Die Ungeheuerlichkeit der jüngsten Leistungssteigerungen nährt zwangsläufig Zweifel. Wann, so frage ich mich in diesen Zeiten oft, wurden die Athletinnen und Athleten, die momentan die Dimensionen verschieben, zum letzten Mal einem Dopingtest unterzogen? Warum gibt es keinen Ausweis dafür, eine öffentliche Darlegung der Testresultate und der Anzahl der Tests? Warum also lässt man uns, den Konsumenten dieser phänomenalen Leistungen, den staunenden Zaungast schier unfassbarer Leistungen, warum lässt man Zweifel zu anstatt sie mit einem Wisch zu zerstreuen? Es lässt ja nur den Schluss zu, dass es vermutlich doch nicht mit rechten Dingen zugeht. Und nicht nur in der Leichtathletik, sondern querbeet.

Vielleicht ist das sogar auch die Stärke des Fußballs, dass die Einfachheit eines erfolgreichen Torschusses nicht in Frage gestellt wird, dass angeblich Dopingpraktiken im Fußball ins Reich der Fabel zu verweisen sind, was viele glauben mögen. Aber es gibt eben keine Diskussion darüber. Tore, Taktik, Jubel. Das versteht jeder. Aber 10.54 Sekunden über 100m, gelaufen von der einer Frau aus Jamaika, sind eine Herausforderung für das Verstehen menschlicher Leistungsfähigkeit. Und vermutlich sind wir noch längst nicht am Ende aller Rekordjagden angelangt. Auch die Paralympics werden wieder heftig diskutiert werden, weil die Verschiedenartigkeit der Behinderungen und der technische Einsatz von Prothesen keine Chancengleichheit zulassen. Und weil auch hier Rekorde von Zweifeln begleitet werden.

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