Aufbruch zu den Sternen

Wann kehrt jetzt endlich Ruhe ein? Ich will mich nämlich zurücklehnen und genießen, wenn ich sportliche Wettkämpfe sehe und nicht ständig in mich hineinhorchen müssen nach dem Motto: Kann das sein? Ist das wirklich möglich? Dabei müsste ich ja abgehärtet sein, da ich alle Weltmeisterschaften der Leichtathletik von 1991 bis 2017 als Kommentator verfolgt habe. Und auch die Olympischen Spiele von 1992 an (mit Ausnahme von Rio de Janeiro). Die Europameisterschaften, die es mittlerweile als kleine oder große kontinentale Titelkämpfe gibt, nicht mitgerechnet.

Ich sollte also gewappnet sein, wenn es wieder Rekorde gibt. Immer und immer wieder. Hinein in die nächste unfassbare Dimension. Jetzt war es erneut soweit. In Eugene beendete die US-Amerikanerin Sydney McLaughlin die 400m nach 50,68 Sekunden. Dabei standen der 22jährigen noch zehn Hürden im Weg. Noch nie lief eine Frau diese Strecke unter 51 Sekunden. Das hielt man schlicht für unmöglich.

Sydney McLaughlin drückte der WM ihren Stempel auf. © APA/getty / Steph Chambers

Ebenfalls zehn Hindernisse überlief die Nigerianern Tobi Amusan, als wären sie gar nicht vorhanden. Am Ende gewann sie mit 12,12 Sekunden. Ihre bisherige Bestleistung stand bei 12.48 Sekunden. Es sind auch die gewaltigen Verbesserungen, die ziemlich auf den Magen drücken und beinahe Unverständnis hervorrufen. Es sind Zahlen, an die man gerne das Wort &bdquo;Fabelweltrekord“ anhängt. Das soll zum Ausdruck bringen, dass wir nicht glauben, dass diese Zeit in naher Zukunft mal unterboten werden kann. Ein Rekord also für die Ewigkeit? Beamon und der Weitsprung Wie zunächst auch angenommen der Weitsprung von Bob Beamon 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexiko City, als er 55 Zentimeter weiterflog als je ein Mensch zuvor. 8.90m. Damals kreierte man das Wort &bdquo;Jahrhundertsprung“. Aber es kam schon 23 Jahre später, also noch im gleichen Jahrhundert, zu einer Verbesserung bei einem legendären Wettkampf im Rahmen der Weltmeisterschaften in Tokio. Carl Lewis sprang 8.91m und wurde dennoch Zweiter, weil Mike Powell noch vier Zentimeter weiterflog. 8,95m. Wir haben uns vermutlich längst daran gewöhnt, dass es Rekorde für die Ewigkeit vermutlich doch nicht gibt. Auch jene von Usain Bolt, die 100m in 9.58 Sekunden und die 200m in 19.19 Sekunden, beide markiert auf der legendären blauen Bahn im Berliner Olympiastadion 2009 anlässlich der damaligen WM, scheinen nicht mehr für immer und ewig in Stein gemeißelt zu sein. Noah Lyles (USA) kam über 200m in Eugene mit 19.31 Sekunden der Superzeit des Jamaikaners ziemlich nahe. Und irgendwann wird es einen Sprinter geben, der Bolt ablösen wird. Duplantis ist der neue Überflieger Es ist dies das Wesen des Sports, dass immer neue Bestleistungen generiert werden wollen. Stillstand ist quasi Rückstand. Die bestehenden Bestleistungen sind Motor und Motivation für jede nachfolgende Generation. Mit der Belohnung von 100.000 US-Dollar, die jetzt ja auch 100.000 Euro sind, wird die Bedeutung von neuen Rekorden noch einmal unterstrichen. Ein Meister seines Faches, sowohl sportlich als auch wirtschaftlich gesehen, war dereinst Sergej Bubka.

Der ehemalige sowjetische und dann ukrainische Stabhochspringer stellte 35 Weltrekorde auf und zwar stets zentimeterweise. Dabei handelte er vorher mit den Veranstaltern der diversen Meetings die Weltrekordprämie aus. Er hätte manchmal auch mit einem Satz fünf Zentimeter oder mehr als die bestehende eigene Marke springen können. Aber das hätte sein Geschäftsmodell zerstört. Auch sein Weltrekord wurde dereinst geknackt. Vor seinen Augen sprang der Franzose Renaud Lavillenie in Donesk vor acht Jahren bei dem von ihm organisierten Meeting 6.15m. Bubkas Rekord von 6.14m hatte 20 Jahre gehalten. Immerhin. Doch längst ist das natürlich eine Geschichte, die mit der Wehmut der Vergangenheit verstrickt ist, denn schon hat sich ein neuer Überflieger auf den Weg zu den Sternen gemacht.

Armand Duplantis hat einen neuen Weltrekord verzeichnet. © APA/afp / JIM WATSON

Armand Duplantis, ein in den USA geborener Schwede (die Mama ist Schwedin), überquerte in Eugene 6.21m. Weltrekord. Und ich staune nicht einmal, denn &bdquo;Mondo“ (erst 22 Jahre alt), wie ihn alle nennen, hat mit seinen jüngsten Leistungen angedeutet, dass es für ihn vermeintlich im Moment keine Grenzen nach oben zu geben scheint. Er sprang schon als Kind immer im Wohnzimmer mit der Besenstange über die Couch und hat in seinem Garten eine eigene Stabhochsprunganlage. Doch seither hat sich für ihn und für viele andere auch vieles geändert. Vor allem im Materialsektor scheinen die Verbesserungen und Innovationen kein Ende zu nehmen. Von den Laufbahnen bis zu den Schuhen und für Duplantis und seine Kollegen und Kolleginnen natürlich auch besseren Stäben führt der Weg wohl zwangsläufig noch immer in für den sportlichen Normalverbraucher gänzlich unbegreifliche Sphären.

Zurücklehnen und genießen? Das ist vermutlich auch nur ein Trugschluss und wird weiterhin nicht möglich sein, denn auch bei den nächsten Titelkämpfen oder Wettkämpfen jedweder Art wird sich die Spezies Mensch über alle Konkurrenten erheben wollen. Wie das immer schon so war. Seit Jahrhunderten auch mit allen verfügbaren Mitteln und Ressourcen vermutlich. Die Bezeichnungen &bdquo;Fabelweltrekord“ oder &bdquo;Jahrhundertsprung“ sind ja nur Ausdruck unserer Hilflosigkeit, das schier Unfassbare einordnen zu können in unsere gewöhnlichen Denkmuster. Und doch ist es normal, denn wir wollen ja staunen über die Leistungsfähigkeit des Menschen. Aber irgendwann, denkt man sich, irgendwann muss doch Schluss sein mit den Rekordjagden. Ja. Irgendwann schon. Aber jetzt ist es noch nicht so weit.

Zur Person: Sigi Heinrich Der renommierte Sportjournalist, Buchautor und vielfach ausgezeichneter Eurosport-Kommentator (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises) widmet sich in seiner Kolumne “Sigi´s Spitzen“ nicht nur der gesamten Vielfalt des Sports. Auch Themen außerhalb seines gewohnten Metiers beschäftigen ihn. Mal sehr ernsthaft, oft auch mit einem verschmitzten Augenzwinkern und mitunter auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle was dabei sein.

Fußball

Italien

Internationale Ligen

International

Eishockey

Tennis

Wintersport

Mehr

Motorsport

Radsport

Wassersport

Events

Favoriten

Aufbruch zu den Sternen

Kommentare (0)