Reinhold Messners Lebensrekord

Nicht alle Menschen streben immer nach Höherem, wenngleich es vermutlich trotzdem schon viel zu viele sind. Die langen Schlangen, die sich vor dem Gipfel des höchsten Berges der Welt, dem Mount Everest bilden, legen beredtes Zeugnis davon ab. Dem Himmel kann man dabei eigentlich nicht näherkommen, denn niemand kann ja sagen, wo genau sich jener Hort angeblicher totaler Glückseligkeit befindet. Er ist, wenn überhaupt, dann in uns, je nachdem wie wir uns fühlen und was uns das Leben gerade gestattet. Es soll einfach so hoch hinaus gehen, wie das menschenmöglich ist. Vierzehn Tage vor meiner Geburt auf unserem Bauernhof stand Edmund Hilary mit seinem nepalesischen Sherpa Tenzing Norgay erstmals auf dem Dach der Welt, wie das so schön romantisch verklärt auch heißt. Weiter rauf geht es also nicht. Ein Rekord, klar, wie die vielen weiteren Erstbesteigungen weltweit, egal ob das nun Gipfel oder besonders extreme Wände waren. Die Frage ist allerdings, ob man solche erstmals erbrachte Leistungen in und auf bis dahin unbekanntem Terrain als Rekord bezeichnen darf oder sollte. Ich wäre dagegen. Vielmehr sind all die Pioniere der Berggeschichte eher Entdecker, auch Abenteurer, die sich letztlich mit ihren erfolgreichen Expeditionen einen Platz in der Geschichte gesichert haben. Wie kann man also noch Lorbeeren ernten, wenn schon alles abgegrast ist in den Bergen und Tälern und überhaupt auf der ganzen Welt? Der Schlüssel weiterer Einmaligkeit liegt in Rekorden, die dem berühmten Otto-Normalverbraucher schier unmöglich erscheinen. Man kann 834 Käsesorten auf eine normale Pizza streuen, respektive mit Pinzette punktgenau platzieren. Oder man lässt sich die Fingernägel wachsen. Lee Richmond aus den USA schaffte mit 8.95 Metern damit den so wahnsinnig gefragten Eintrag in das Guinness-Buch der Rekorde, das mittlerweile als Antrieb gelten kann auch für Auswüchse, die nicht mehr als skurril zu bezeichnen sind, sondern schon als abartig bezeichnet werden müssen. In New York verdrückte der Sieger eines Hot-Dog-Fresswettkampfes (anders kann man das nicht bezeichnen) 70 Stück dieser Wurst im Brotteig. Gut, das schafft unsereiner im Leben nicht. Die Siegerzeit: Zehn Minuten. Dafür gab es einen Scheck über USD 10.000. Das muss man sich aber nicht antun. Es geht viel einfacher. 15 Big-Macs in 22 Minuten etwa. Auch das ist Weltrekord. Oder man sammelt Gummienten. 5261 ist mittlerweile der beste Wert. Tja, da haben viele definitiv nicht alle Tassen im Schrank oder 25 an einer Hand, wie der Italiener Rocco Mercurio, der süchtig ist nach verrückten Rekorden. So hielt er auch mal 200 Pokerchips auf einem Finger. Dünne Luft für den Theoretiker Das ist nur ein klitzekleiner Auszug aus dem Buch der Bücher für Rekorde und so allmählich wird dann schon verständlich, warum Reinhold Messner dort nicht mehr geführt werden will. Klar, ein wenig beleidigt dürfte er schon gewesen sein, dass ihm nach einem Einspruch des selbsternannten Himalaya-Chronisten Eberhard Jugalski aus Deutschland der Rekord, als Erster alle 14 Achttausender der Welt bestiegen zu haben, aberkannt wurde. Angeblich stand er nicht direkt auf dem Gipfel des Annapurna (8091 Meter). Schließlich lenkte der deutsche Bergtheoretiker ein, als er merkte, dass die Luft wohl angesichts der Kritik, die von überall auf ihn einprasselte, dünn wurde, ohne auch nur einen Schritt in die Höhe gegangen zu sein. Messner bleibt der Achttausender-König. Aber vielleicht war diese Diskussion auch bereinigend, sogar für Messner, um in diesem Zusammenhang die Beweggründe für seine Aktivitäten noch einmal deutlich zu machen. Klar mag ein weit über den Durchschnitt hinausgehender Ehrgeiz, etwas Einmaliges und noch nie Dagewesenes zu vollbringen, die Hauptantriebsfeder seiner Himalaya-Tour gewesen sein, wie auch später für seine anderen Abenteuer. Aber im Grundprinzip ist und bleibt er ein Alpinist. Ein Suchender zudem, ein Grenzgänger. Und eigentlich ist er ein Traditionalist, der vermutlich der neuen Rekordsucht mit ständigen Wiederholungen bereits erreichter Leistungen unter Zeitdruck nicht viel abgewinnen kann. Ich stelle mir gerade vor, wie er auf Schloss Juval sitzt und still in sich hineinlächelt bei der Nachricht, dass die Norwegerin Kristin Harila seine 14 Achttausender in 92 Tagen bestiegen hat. Mit Hilfe von vielen Sherpas, Fixseilen, Hubschraubern am Basiscamp, natürlich mit Flaschensauerstoff und allen nur weiter denkbaren Hilfsmitteln. Ich gebe Messner uneingeschränkt recht, wenn er meint, dass dies kein Bergsteigen mehr sei im herkömmlichen Sinn. Harila kam damit zu Netflix wie auch Nirmal Purja. Der Nepalese stand nach sechs Monaten und sechs Tagen auf allen Gipfeln wie Messner, der sich für seine Lebensaufgabe vernünftigerweise Zeit nahm von 1970 bis 1986. Er schrieb darüber noch Bücher und muss schon deshalb nicht im Guinnessbuch der Rekorde verewigt werden. Seine Triebfeder war nicht unbedingt die öffentliche Wahrnehmung, die freilich zwangsläufig folgte, sondern wohl eher der in ihm tobende Geist der Unruhe, die Welt der Berge zu entdecken. Dorthin zu gehen, wo noch niemand vor ihm war mit der Kraft und dem Willen die ihm zu eigen waren. Mit Peter Habeler war er der Erste auf dem Mount-Everest ohne Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff. Er wiederholte das später im Alleingang, wie er auch den Nanga Parbat 1978 als Erster im Alleingang bestieg. Das ist längst vermerkt und Geschichte, weshalb sich Messner nun wirklich nicht darum kabeln muss, mit jenen in einem Buch zu stehen, die in Flip-Flops oder Handschellen die schnellsten Marathonzeiten erzielt haben. Seine Lebensleistung ist für sich schließlich schon ein Rekord. Der Autor: Sigi Heinrich Der preisgekrönte Sportjournalist, Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernsthaft oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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