Überall fallen Tore wie am Fließband

&bdquo;Spektakel, Spektakel. Hereinspaziert. Ein paar Plätze sind noch frei. Verpassen sie diese Show nicht. Wir garantieren Spannung, Unterhaltung, Dramatik. Sie werden es nicht bereuen.“ So oder ähnlich werden die markigen Sprüche wieder klingen, die zum Oktoberfest gehören wie gebrannte Mandeln und die flaumige Zuckerwatte. Die Fans sollen in die Geisterbahn gelockt werden, natürlich auch in die Achterbahnen mit ihren spektakulären Loopings. Aber auch zu den Steilwandfahrern, die der Schwerkraft zu trotzen scheinen. Und natürlich ist auch das &bdquo;Teufelsrad“ ein Anziehungspunkt, denn dort kann man sehen, wie sich die Mitmenschen zum Deppen machen, wenn sie von der sich immer schneller drehenden Scheibe abgeworfen werden. Das ist wahnsinnig lustig. Bald ist es ja wieder so weit, aber bis dahin ist mittlerweile für besten Ersatz gesorgt. Im Fußball nämlich geht es derzeit auch rund. Und endlich, so scheint es, bekommt man tatsächlich einen Gegenwert für die Eintrittskarten, denn die kickenden Schausteller haben sich in dieser Saison offensichtlich der Offensive verschrieben. Europaweit übergreifende Torflut macht beste Laune. Gierige Stürmer Mit neun Treffern schießt sich der FC Liverpool seinen Frust über den durchwachsenen Saisonstart von der Seele. Gut, der Gegner ist offiziell jetzt zwar erstklassig, spielte aber so wie in der letzten Saison. Da war der AFC Bournemouth noch in der zweiten Liga. Das ließ sich Dauerrivale Manchester City nicht zweimal sagen und drehte dank seines neuen Stürmers Erling Haaland auf, der innerhalb von 19 Minuten drei Tore gegen Cristal Palace erzielte. Mithin einen lupenreinen Hattrick also. Er ist, so Trainer Pep Guardiola, das fehlende Puzzle auf dem Weg zum Gewinn der Champions-League. Irgendwann. Der deutsche Aufsteiger in die Bundesliga, Schalke 04, verließ die eigene Arena mit hängenden Köpfen und sechs Gegentoren gegen Union Berlin. Sieben Tore insgesamt gab es beim Match in Bremen, das Eintracht Frankfurt mit 4:3 gewann.

Neulich fertigte der FC Bayern den Vfl Bochum mit 7:0 ab, wobei dabei die Tatsache erstaunlich war, dass die Bochumer nach jedem Gegentor unverdrossen ihr Heil in der Offensive suchten. Die Münchner nutzten die Räume natürlich gnadenlos aus. Es war quasi eine Einladung. Jeder Schuss ein Treffer. Gegen Borussia Mönchengladbach wären zuletzt auch fünf oder sechs Tore möglich gewesen. Alleine der Torhüter der Gäste, der Schweizer Yann Sommer, spielte nicht mit und hielt, was zu halten war, um mal den üblichen Fußballjargon zu bemühen. Vielleicht fehlte den Bayern zum ersten Mal Robert Lewandowski, der in Spanien nichts von seinen Torjägerqualitäten eingebüßt hat. Zweimal traf er zuletzt erneut für den FC Barcelona beim 4:0-Sieg gegen Real Valladolid. Was die Bayern nämlich seit dem Abgang des Polen nicht mehr in ihren Reihen haben, ist ein kopfballstarker Stürmer, weshalb Trainer Nagelsmann den möglicherweise künftigen Abwehrchef Matthijs de Ligt in das Sturmzentrum einwechselte. Die Erkenntnis, dass Sommer auf der Linie einer Krake mit hundert Tentakeln ähnelt, seine Strafraumbeherrschung wie bei vielen seiner Kollegen aber eher von Vorsicht geprägt ist, kam diesmal zu spät. In Italien geht man mit Toren erfahrungsgemäß spärlich um. Immerhin besiegte US Salernitana die Gäste aus Genua mit vier Treffern ohne selbst ernsthaft in Gefahr zu geraten. Abwehrspieler bleiben wertvoll Spektakel, Spektakel. Und doch ist es so, dass fast alle Vereine ihr Geld in erster Linie in Abwehrspieler investieren. Annähernd 100 Millionen Euro lässt sich jetzt der FC Chelsea wohl Wesley Fofana vom Ligakonkurrenten Leicester kosten, denn noch ist das Transferfenster offen. Der 21jährige wäre damit der teuerste Innenverteidiger aller Zeiten. Er soll der Wunschspieler von Thomas Tuchel sein. Auch der FC Bayern bezahlte vor zwei Jahren schon 80 Millionen für Hernandez an Atletico Madrid. Das Motto ist klar. Hinten dicht und vorne wirbeln. Der Fußball hat sich aufgemacht, die Fans mit erfrischender Spielweise verwöhnen zu wollen. Abwechslung ist fast schon gewährleistet und viele meiner Kollegen, die Fußballspiele kommentieren, sprechen oft und gerne mittlerweile von bester Unterhaltung. Das hat es in diese Häufung so schon lange nicht gegeben und liegt auch an vielen jungen und experimentierfreudigen Trainern, die es leid sind, mit Dauerballbesitz bis zum Strafraum zu kommen, um dann doch leer auszugehen.

Bayerns Matthijs de Ligt half am Wochenende im Sturmzentrum aus. © ANSA / SASCHA STEINBACH

Jetzt wird geballert und übrigens auch viel mehr als früher aus der zweiten Reihe geschossen, während man ja lange Zeit das Gefühl hatte, dass man nur innerhalb der sogenannten &bdquo;Box“ (neuer hochmodischer Sprachgebrauch für Strafraum) den Ball Richtung Tor befördern kann und darf. Vorbei. Für uns ist ein 4:3 allemal schöner als ein 1:0, weil dann, um noch einmal zum Oktoberfest zurückzukommen, auch die Achterbahn der Gefühle eine schwindelerregende Fahrt anbietet. Jetzt muss sich das nur noch der FC Südtirol zu Herzen nehmen, der jetzt endlich und etwas spät nach der ersten Trainerentlassung, einen neuen Übungsleiter präsentiert hat mit Pierpaolo Bisoli. Er hat eine große Aufgabe vor sich. In Kalabrien schoss sein neuer Verein zuletzt bei der 0:4 Niederlage gegen Reggina sehr sparsam und klar gegen den Trend lediglich einmal auf das gegnerische Tor.

Zur Person: Sigi Heinrich Der renommierte Sportjournalist, Buchautor und vielfach ausgezeichneter Eurosport-Kommentator (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises) widmet sich in seiner Kolumne “Sigi´s Spitzen“ nicht nur der gesamten Vielfalt des Sports. Auch Themen außerhalb seines gewohnten Metiers beschäftigen ihn. Mal sehr ernsthaft, oft auch mit einem verschmitzten Augenzwinkern und mitunter auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle was dabei sein.

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