Sigi's Spitzen | Nagelsmann öffnet die Zukunft

Daumen rauf oder runter. Das entschied früher über Tod oder Leben. So wird uns das zumindest überliefert, wenngleich es sich geschichtlich vermutlich anders verhält, als wir von den Filmen und Geschichten über Gladiatoren kennen. Mittlerweile hat der erhobene Daumen längst Einzug gehalten in den Fußball-Stadien. Ein gutes Zuspiel, auch wenn es nicht in einem Tor endet, wird vom Adressaten gerne an den Mitspieler mit einem erhobenen Daumen belohnt. Soll heißen: Gut gemacht. Ein Signal der Kameradschaft, der Zusammenarbeit, des Teamgeistes. Weiterhin wird der Daumen aber auch sinnbildlich gebraucht.

Julian Nagelsmann, der Bundestrainer Neuling, hat im Moment etwa die höchste Entscheidungsbefugnis, was die Berufungen in die Nationalmannschaft betrifft. Ein kleiner Cäsar praktisch, der immerhin mit seiner Entscheidung starken Einfluss auf das Leben der Spieler nehmen kann. Daumen rauf oder runter. Jetzt ist es wieder soweit gewesen. Und so gewaltig wie diesmal hat noch kein DFB-Trainer vor ihm den personellen Wandel in Angriff genommen. Es ist ein Kicker-Erdbeben, das damit begann, dass Nagelsmann dem 33jährigen Real-Mittelfeldspieler Toni Kroos die Türe zur Rückkehr in die Auswahl geöffnet hat. Damit haben die Rochaden im Team begonnen. Bestehende Strukturen verändern sich. Das kann sich positiv auswirken, ist aber nicht ohne Risiko. Fest steht damit freilich, dass zumindest bis zur Europameisterschaft alles auf null gestellt wird, was vermutlich schon längst hätte geschehen müssen nach den Debakeln der letzten großen Meisterschaften.

Borussia Dortmund ist out Der Flick-Nachfolger hat sich Zeit genommen, viel beobachtet, analysiert und ist zu einer wohl klaren Erkenntnis gelangt: Er zielt vornehmlich auf die aktuelle Form der möglichen Kandidaten für die Auswahl. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass er selbst nur einen Vertrag hat bis zum Ende der kontinentalen Titelkämpfe. Die Zukunft kann ihm schnuppe sein. Diese Freiheit hatte keiner seiner Vorgänger. Das mag so manche Entscheidung, die je nach Betrachtungsweise der eine oder andere als unpopulär ansehen mag, beeinflusst haben. Borussia Dortmund etwa wird rasiert. Der erste Aufschrei.

Mats Hummels steht nicht im Aufegbot. © APA/afp / CHRISTOF STACHE

Kein Süle mehr, kein Schlotterbeck, kein Brandt und vor allem kein Hummels. Nur Mittelstürmer Niclas Füllkrug vertritt noch die Dortmunder Farben. Eine zweifellos für die Betroffenen unangenehme Situation, weil sie das vermutlich als persönliche Niederlage sehen und als einen Rückschlag in ihrer Karriere, denn der Status des aktuellen Nationalspielers ist auch mit finanziellen Vorteilen verbunden wie möglichen zusätzlichen Werbeverträgen. Der Dortmunder Trainer Edin Terzic müsste dagegen jetzt eigentlich jubeln. Er hat seine Kicker nun rund um die Uhr zur Verfügung und muss nicht fürchten, dass es bei Abstellungen Verletzungen gibt. Allerdings gibt es auch einen Wermutstropfen. Die Absage an seine Kicker sagt auch aus, dass diese derzeit nicht für gut genug befunden werden, Deutschland zu vertreten. Das fällt auch auf ihn zurück.

Vier Stuttgarter im Aufgebot Der Schwerpunkt der Nationalmannschaft wandert südwärts. Der Stuttgarter Trainer Sebastian Hoeneß sorgt mit seinem Team gerade für Furore. Wäre die attraktive Spielweise der Schwaben und ihre Erfolge Bundestrainer Nagelsmann verborgen geblieben, wäre der ehemalige Bayern-Coach wohl total fehl am Platz. Gleich drei Neulinge aus Stuttgart (Maximillian Mittelstädt, Deniz Undav und Waldemar Anton) tauchen deshalb im Kader auf. Dazu kommt noch deren Vereinskollege Chris Führich. Neue Achsen entstehen mit neuen Abwehrspielern und Mittelfeldakteuren.

Aber wohin mit Kapitän Ilkay Gündogan? Wohin mit den überragenden Solisten Florian Wirtz und Jamal Musiala? Zwei Spieler, die bei Leverkusen und Bayern München unverzichtbar sind und überragend agieren. Für sie muss Nagelsmann in jedem Fall Platz schaffen. Dazu nominierte er noch den Youngster Alexander Pavlovic (FC Bayern), wenngleich anzunehmen ist, dass dahinter eine sportpolitische Dimension verborgen ist. Denn der gebürtige Münchner hat serbische Eltern und der serbische Fußball-Verband wurde erst jüngst vorstellig bei Pavlovic und hätte ihn gerne ihn seinen Reihen. Jetzt schnuppert er erst einmal DFB-Luft. Noch ist eine Entscheidung nicht gefallen.

Schwere Testspiele Julian Nagelsmann hat Mut bewiesen mit seinem neuen Kader und den vielen neuen Gesichtern. Es sind sichtbare Veränderungen in vielerlei Hinsicht erkennbar. Vielleicht sogar ein Konzept, das nachhaltig wirken kann. Es ist gut, dass die nächsten Vorbereitungsspiele für die Heim-Europameisterschaft Gegner von hohem Niveau sind. Zunächst Frankreich und dann die Niederlande. Erst danach wird sich zeigen, ob der neue Stil des vermeintlichen Übergangstrainers Früchte trägt. Fest steht auf jeden Fall, dass die Blockbildung eines Vereins als Gerüst der Nationalmannschaft vorbei ist. Es gibt keine Pfründe mehr, die eine automatische Nominierung zur Folge haben. Hingegen jede Menge frische und neugierige junge Spieler, die auch uns neugierig machen auf die nächsten Auftritte der DFB-Auswahl mit neuen, frischen Trikots. Es klingt fast wie ein Aufbruch in eine bessere Zukunft

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert auch gerne in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst und nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Sigi's Spitzen | Nagelsmann öffnet die Zukunft

Bei der gestrigen Vorstellung des DFB-Kaders für die Testspiele gegen Frankreich und Niederlande macht Bundestrainer Julian Nagelsmann klar, dass vor allem die aktuelle Form zählt. Unser Kolumnist Sigi Heinrich sieht auch das Ende der Blockbildung gekommen.

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