Harry Kane bleibt am Ball

Gefühlt dauert diese Fußball-Europameisterschaft jetzt schon eine halbe Ewigkeit. Mühsam schleppen wir uns nach der intensiven Vorrunde durch die Tage, denn; klar, je mehr ausscheiden, umso weniger Spiele stehen auf dem Programm. Und wir sind die beinahe tägliche Kickerberieselung jetzt eigentlich gewohnt. Sie hat unseren Alltag bestimmt. Selbst die allerbesten Ehefrauen von allen hatten keine Argumente und schon gar keine Durchsetzungskraft mehr. Die Ziellinie freilich ist nah. Leider. Nun folgt nur noch das Finale. Und Konrad Adenauers wunderbarer vermutlich Jahrhunderte überdauernder Spruch: &bdquo;Was schert mich mein Geschwätz von gestern“, hat neuerlich Wirkung gezeigt, wobei wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass man die Weiterführung dieser Aussage des ersten deutschen Nachkriegskanzlers nicht verschweigt. Er fügte nämlich noch folgendes an: &bdquo;Nichts hindert mich daran, klüger zu werden.“ Er hinterfragte seine Entscheidungen, beobachtet die daraus sich ergebenden Resultate und korrigierte mitunter, wobei er Kritik an sich abprallen ließ, als hätte er einen Schildkrötenpanzer.

Vermutlich wäre er auch ein guter Fußball-Trainer geworden. Aber er hatte ja auch ein Pendant mit Sepp Herberger, dem Taktikfuchs und Weltmeistercoach von 1954, der sich von der damals freilich noch nicht sonderlich umfangreichen Presselandschaft nicht beirren ließ und gar Niederlagen bewusst in Kauf nahm, um im weiteren Turnierverlauf damals dem großen Favoriten Ungarn aus dem Weg zu gehen. Das Ergebnis ist bekannt. Deutschland wurde Weltmeister. Wäre es etwa nach den vielen und ziemlich aggressiven Urteilen der britischen und auch der internationalen Presse während der Weltmeisterschaft gegangen, hätte sich Englands Trainer Gareth Southgate von Schuldgefühlen geplagt längst zurückziehen müssen. Irgendwohin. Vielleicht in ein abgelegenes englisches Spukschloss, denn seine Elf spielte sich nicht durch diese Titelkämpfe, sondern geisterte wie unbekannte Wesen kaum sichtbar durch die Stadien. Es gab Spiele, da hatte der große Kapitän und Bundesligatorschützenkönig der letzten Saison, Harry Kane, in einer Halbzeit nur eine Ballberührung. Uninspiriert und fern wohl jeglicher Titelambitionen agierte England. Und Superstar Jude Bellingham spielte wie sein eigener Schatten. Hohn und Spott ergoss sich über die Three Lions, die nicht mehr waren als zahme Schoßhunde.

Die Stunde der Experten Southgate blieb derweil ruhig. Er ist Kritik gewohnt, vor allem von den ehemaligen Kollegen, die mit ihm noch in der Nationalmannschaft gespielt haben. Und dieses Geschwätz, das juckt ihn kaum noch, denn es ist ja mittlerweile gängiges Prozedere. Eine Europa-oder Weltmeisterschaft ist ja auch immer die Spielwiese der Gestrigen, die wieder die Chance erhalten, noch einmal im Licht der Kamera zu glänzen. Folgende oder damit verbundene Werbeverträge werden dazu gerne genutzt. Fast immer hätte der eine oder andere sogenannte Experte (dafür muss man keine Ausbildung machen) das eine oder andere dann auch immer anders gemacht. Logisch. Streicheleinheiten sind nicht gefragt. Doch Southgate und auch viele seiner Kollegen sind meist ruhig geblieben, obwohl natürlich fast in jedem Spiel im Grunde ihr Job an der Seitenlinie auch auf dem Spiel stand. Aber dann kam für die Engländer das Match gegen die Niederlande und mal wieder fast das Ende der Spielzeit und Southgate zauberte. Er holte doch tatsächlich seinen Kapitän Kane vom Platz, schickte dafür Olli Watkins in den Kampf, der den Siegtreffer erzielte. &bdquo;Dem Mutigen gehört die Welt“, erkannte schon im 19.Jahrhundert der deutsche Schriftsteller und Erzähler Theodor Fontane. Und mutig, ja das war die Personalrochade von Southgate.

Und so nebenbei spielte sein Team wie ausgewechselt mit dem möglichen Finale vor Augen. New-England. Getreu dem abgewandelten Motto: &bdquo;Was schert mich mein Spiel von gestern.“ Wir freuen uns auf das Finale mit den wunderbaren Spaniern und stellen noch fest, dass bei dieser Europameisterschaft Niederlagen nicht wie oft in der Vergangenheit mit Entlassungen verbunden wurden, denn selbst Verlierer spielten großartigen Fußball. Siehe Österreich, Georgien oder Slowenien. Oder auch Deutschland. Es scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass man die freien Kräfte des Sports nicht immer kontrollieren kann und dass dann eben nicht immer die sofortige Schuld bei einer Niederlage beim jeweiligen Trainer zu suchen sein muss. Manchmal, auch das ist ja eine Möglichkeit, ist der Gegner ganz einfach besser oder -und auch das gehört zum Wesen des Sports—einfach mit einem besseren Draht zu Fortuna ausgestattet. Aber vielleicht, wer weiß, ist es auch nur ein Innehalten im Moment, eine weitere Konsolidierung, um in zwei Jahren die nächste Chance zu nutzen bei der Weltmeisterschaft in Mexiko, Kanada und die USA. Mit 48 Mannschaften, also 104 Spielen insgesamt über insgesamt fünf Wochen. Dagegen war die Europameisterschaft nur ein Sprint.

Zum Auto: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Redakteur der Süddeutschen Zeitung und Kommentator der ersten Stunde von Eurosport (1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi Spitzen“, der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Harry Kane bleibt am Ball

Mit ihrem besten Spiel bei dieser Europameisterschaft schafft England den Sprung ins Finale gegen Spanien. Unser Kolumnist Sigi Heinrich stellt auch den vielen Verlierern ein gutes Zeugnis aus und weist schon mal auf die Marathon-WM in zwei Jahren in Amerika hin.

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